Buchtipp des Monats Mai 2024

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© Hartmut Fanger

Goethe – Biografie des Dichters und Universalgelehrten im Spiegel seines Zeitalters

 

Das Beste, was wir von der Geschichte haben,

ist der Enthusiasmus, den sie erregt.

Goethe in „Wilhelm Meisters Wanderjahre"

 

Thomas Steinfeld::

Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.

 

Angesichts der Jahr für Jahr zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Leben und Werk Goethes insbesondere im asiatischen Raum mag so mancher ins Staunen geraten, wenn er dieses 784 Seiten umfassende, für einen breiten Leserkreis verfasste Porträt von Thomas Steinfeld in Händen hält. Leicht ist man versucht anzunehmen, auf diesem Gebiet sei bereits alles gesagt. Umso erstaunlicher, wenn der einstige Literaturchef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», später Leiter des Feuilletons der «Süddeutschen Zeitung» und Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern neben allgemein Bekanntem so manches zu erzählen hat, was in der Forschung bislang, wenn überhaupt, nur wenig Beachtung fand. Etwa, dass ‚ein Naturalienkabinett‘ zur Ausstattung der Kinderstuben im entsprechend wohlhabenden, gebildeten Milieu gehörte – so auch von Kindheit an bei Goethe. Im Alter wiederum mündete dies in seine umfangreichen Sammlungen jeder Art von Steinen bis hin zur italienischen Majolika im Haus am Frauenplan. Aber auch seine Vorliebe für Spinoza, was annähernd einen Skandal in der damalig streng religiösen, sprich pietistisch geprägten christlichen Welt auslöste, kommt bei Steinfeld zur Sprache. Oder die Darstellung der einstig vorherrschenden Armut in Weimar, einem Ort, lediglich aus sechshundert Häusern bestehend, in dem man sich zwangsläufig begegnete, sich kaum ausweichen konnte. Ebenso wenig wie die von Steinfeld skizzierte Lebensgeschichte von Goethes Sohn August hier unerwähnt bleiben darf, die nicht zuletzt im Hinblick auf Goethe selbst sehr wohl von Bedeutung ist.

Ein Plus überdies der ungeschminkte Schreibstil Steinfelds, frei von Verklärung des universalgelehrten Dichters bei gleichzeitiger Hervorhebung seiner Genialität im poetischen Schaffen von Gedichten, Theaterstücken, Romanen und Märchen, Briefen und autobiographischen Texten – unvergänglich eingegangen in die Weltliteratur. Allesamt kommen sie hier mit jeweiligem Hintergrund ausführlich zum Tragen, so dass dies auch für künftige Schüler-generationen und Studierende sowie sonstige Interessierte von Nutzen sein wird. Von „Götz von Berlichingen“ bis hin zu den „Leiden des jungen Werther“, von “Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und ‚Wanderjahre’ bis zu den „Wahlverwandtschaften“, vom „Westöstlichen Divan“ bis hin zu „Faust I“ und „Faust II“; nicht zu vergessen die naturwissenschaftlichen Schriften, wie etwa die „Farbenlehre“ oder „Entdeckung des Zwischenkieferk1nochens“.

 

Bereichernd im Übrigen die Einbringung des kulturell-gesellschaftspolitischen Umfelds. So bringt Steinfeld zum Beispiel ausführlich die Freundschaft des jungen Goethe zu Lavater und dessen Studien zur Physiognomie ins Spiel. Der wiederum war der Annahme, dass sich mit Hilfe eines Schattenrisses vom seitlichen Profil eines Menschen ‚Charakter, Denkweise, Gemüt’ ablesen lasse. Dies erklärt womöglich auch das besondere Interesse Goethes am Scherenschnitt. Demnach gab es in der Goethezeit im Hinblick auf das Menschenbild noch vieles zu entdecken, was dann auch das Aufkommen der neuen literarischen Form des Briefeschreibens erklärt. Bei Goethe steht am Ende der Briefroman, sprich „Werther“.

 

Auch erfahren wir im Zuge dessen, dass der Roman wenig Renommee besaß, vielmehr als «Genre der Unterschichten» [gal]t und allgemein im Verdacht stand, „Vernunft, Sittlichkeit und Kunstsinn der Bürger zu untergraben.“ Leseprobe. So mag sich der große Erfolg von ‚Werther‘, der damalige Verkaufszahlen sprengte und selbst Napoleon begeisterte, nicht zuletzt dem hohen Identifikationsgrad der Leserschaft mit dessen Schicksal verdanken. Napoleon hatte später auf seinen Eroberungsfeldzügen Goethe deshalb sogar in Erfurt getroffen. Bereits hier mag sich das im Untertitel erwähnte, von Umbrüchen geprägte „Bild einer Zeit“ andeuten, was Goethe immer wieder existenziell erschüttert hat. So beginnt Steinfelds Werk auch mit dem „September 1792“, jenem ‚vierten Herbst nach Beginn der Französischen Revolution’, wo Goethe ‚widerwillig in den Krieg ziehen’ musste und deutlich wird, dass der Dichter wahrlich nicht zu kämpfen gewillt war. Zugleich zeigt Steinfeld auf, dass der einzige Kampf, den Goethe ausfocht, jener gegen Isaac Newton im Hinblick auf seine „Farbenlehre“ war, der allerdings allein schon insofern auf rein intellektueller Ebene ausgetragen wurde, werden konnte, als dieser schon ein Jahrhundert vor ihm gelebt hatte.

 

So ungeschminkt wie plastisch schildert Steinfeld auch jene Orte, in denen der Dichter und Geheimrat wirkte. Darunter natürlich die Kindheit in Frankfurt am Main, das Studium in Leipzig und Straßburg, die Umsiedelung nach Weimar sowie die Reisen nach Italien, in die Schweiz oder auf den Brocken im Harz. Aber auch die zahlreichen Besuche von Kurorten, wie zum Beispiel Karlsbad oder Teplitz in Böhmen, finden Erwähnung. Immerhin eröffneten sie ihm Bekanntschaften mit dem Hochadel, wie mit der österreichischen Kaiserin Maria Ludovica, oder Musikern, wie Beethoven.

 

Anders als die Biographie von Rüdiger Safranski („Goethe – Kunstwerk des Lebens“ 2013) wird hier Goethes Leben nicht mit dessen Kunst gleichgesetzt, wie am Schluss deutlich zutage tretend. So etwa, wenn – entgegen seinem Werk von überragender literarischer Qualität sowie dem hohen gesellschaftlichen Ansehen – von Goethe bekannt ist, dass er im Alter zu „Missmut, Bitterkeit, Resignation“ neigte, ja sogar von teils „selbstgewählter Isolation“ die Rede ist, was Goethe wiederum eher wohltuend menschlich in Erscheinung treten lassen mag.

 

Sicher gäbe es jede Menge weiterer Punkte zu berücksichtigen, ist das Leben Goethes im Spiegel seiner Zeit doch einfach zu komplex, um jeden einzelnen Aspekt auszuführen. Umso mehr ist das vorliegende Werk Steinfelds angetan, dem Ganzen sehr wohl gerecht zu werden und auf den Punkt genau die Lebensstationen Goethes, dessen Schaffensprozess und Werk sowie die in all ihren Facetten geschichtsträchtige Zeit vor Augen zu führen. In jedem Fall lesenswert, nicht nur für Goethekenner, sondern auch für all jene, die gerne lesen und mehr von Goethe und dessen Umfeld erfahren wollen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag, Berlin

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