© Erna R. Fanger
Unvoreingenommen scheitern
Frank Witzel: „Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch“, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019
Als Vorbild Witzels diente hier Journal métaphysiquedes französischen, christlich-existenzialistischen Philosophen Gabriel Marcel (1889-1973). Dabei lag Witzel im Zuge einer Krise daran, statt fiktiv zu schreiben, in einer Art Tagebuch der Chronologie seiner Gedanken zu folgen, diese zu beobachten und zu dokumentieren. Und das über einen begrenzten Zeitraum von zwei Monaten. Fokussiert auf den Prozess seines eigenen Denkens, meandert er so durch Assoziationen und Gedankenketten, ohne zurückzublättern, hinterher zu überarbeiten, wie er es vom fiktiven Schreiben her kennt. Stattdessen verfolgt er besagtes Vorhaben akribisch im Wechsel mit regelmäßigem Schwimmen. Denn das Denken hört beim Schwimmen nicht auf.
Was auf den ersten Blick lapidar erscheinen könnte, erweist sich im Zuge der Lektüre als geistiges Abenteuer, das der Leser auf knapp 300 Seiten in kleinen Abschnitten – teils lediglich Gedankensplitter und Aphorismen, teils längere Überlegungen – gebannt verfolgt. Nicht zuletzt mag es die Skepsis des Autors sein, der hier, dem buddhistischen Grundsatz „Glaube nicht alles, was du denkst“ folgend, sein eigenes Denken, die implizit damit einhergehenden Bewertungsmuster, immer wieder radikal infrage stellt. Hinzu kommen die reichhaltigen Referenzen an Philosophie, Geistes- und Religionsgeschichte. Etwa in Auseinandersetzung mit den Schriften Simone Weils oder Søren Kierkegaards, Ludwig Wittgensteins oder Roland Barthes‘. Aber auch der Bibel oder dem Buddhismus weiß er sich verpflichtet. Ebenso wie überdies verschiedene Literaturen hier miteinfließen. Allesamt Weg weisende Parameter, die der Leser dieses Buches, wenn nicht selbst rezipiert, so doch nicht selten gestreift hat, was nicht zuletzt den Reiz der Lektüre ausmacht. Wobei Witzels Denken letzten Endes um all die Lecks und offenen Fragen kreist, die den Menschen seit der mit Aufklärung und Säkularisierung einhergehenden metaphysischen Obdachlosigkeit in Schach halten. Nicht auf Gnade und Barmherzigkeit von höherer Warte mehr darf er von nun an bauen. Vielmehr ist er, mündig, angehalten, selbst Verantwortung zu übernehmen, und scheint damit nicht selten überfordert. Neben der Auseinandersetzung mit Grundthemen wie Glauben, Endlichkeit, Angst, Liebe, Tod, Ethik oder Ästhetik, gilt sein Augenmerk immer wieder der offenbar gescheiterten Beziehung zu einer gewissen O., der einen oder anderen mehr oder weniger flüchtigen Begegnung oder den Sitzungen bei einer Therapeutin.
Zentrale Erkenntnis, die Witzels ‚Metaphysiches Tagebuch‘ in facettenreicher Spiegelung mit besagten Philosophen und religiösen Schriften transportiert, entspricht im Grunde Einsicht und Weisheit des Buchs Kohelet respektive Prediger Salomo der Heiligen Schrift, wo die Vergeblichkeit menschlichen Strebens unterstrichen, der Mensch in seinem grundlegenden existenziellen Scheitern in den Fokus genommen wird. Letzten Endes erweist sich ein jeder als Gefangener seines eigenen Denkens, seiner Glaubenssätze und Verhaltensmuster. Und die Wahrnehmung, erst einmal durchdrungen vom Denkfluss Witzels, unvoreingenommen und zweckfrei, weist dabei über den eigenen Horizont hinaus und entwirft multiperspektivische Sichtweisen, die die Lektüre zu einem ausgesprochenen Gewinn machen. Sprich wir stoßen dabei einerseits auf Grenzen der Wahrnehmung und des Geistes, werden auf uns selbst zurückgeworfen, was andererseits jedoch dazu anhält, besagte Grenzen, denkend oder schreibend, zu überschreiten. Eben darin scheint sich der emanzipatorische Gehalt eines solchen radikal subjektiven Vorgehens zu manifestieren, das dem Autor in seiner unaufgeregten, präzisen Durchdringung der Phänomene nicht zuletzt so etwas wie Glück beschert: „Das tägliche, immer weiter denkendeSchreiben ... hat nach knapp vierzehn Tagen eine beruhigende Wirkung, von der eine beständige Energie ausgeht, sodass ich, kaum zu Hause, weiterschreiben möchte ...“
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Matthes & Seitz in Berlin
Siehe auch: den Sachbuch Tipp David Wagner: "Sich verlieben hilft"
© Hartmut Fanger:
Andrea Gerk – Moni Port: „FÜNFZIG DINGE, DIE ERST AB FÜNFZIG SPASS MACHEN“, Kein & Aber Verlag, Zürich Berlin 2019.
Keine Frage, die Zahl 50 ist magisch. Insbesondere dann, wenn von Alter und im weitesten Sinne von Beziehungen die Rede ist. Historische Ereignisse, Jubiläen und runde Geburtstage fallen uns ein. Ebenso Filme wie „Mit fünfzig küssen Männer anders“ von Margarethe von Trotta oder Lieder wie Paul Simons „Fifty ways to leave your lover“. Indessen liegt überdies das heiter und locker formulierte, dabei äußerst unterhaltsame Büchlein „Fünfzig Dinge, die erst ab fünfzig richtig Spaß machen“ von der bekannten Fernsehmoderatorin und Autorin Andrea Gerk vor, hinreißend illustriert von Moni Port. Und es erfüllt nach den ebenso originellen wie sinnreichen Büchern besagter Autorin, wie „Lesen als Medizin“ oder „Lob der schlechten Laune“, einmal mehr unsere Erwartungen. Dabei muss man die Ratschläge für das Leben in der zweiten Hälfte des Daseins nicht unbedingt mit akribischem Ernst befolgen. Vielmehr können sie, an Witz kaum zu überbieten, als Anregung dienen, das Älterwerden in seinem Potenzial an Lebenslust zu erkunden. Und dies nicht ohne Augenzwinkern. Sei es der Vorschlag, ‚eine Playlist für die eigene Beerdigung zusammenzustellen’ oder ‚Rezepte zu kochen, die absurd aufwendig sind’. Von „Ticks und Macken pflegen“, „Das Wetter studieren“ oder „Sich einen Preis fürs eigene Lebenswerk verleihen“ ganz zu schweigen. Dabei schreckt die Autorin auch vor Tabus nicht zurück. So zum Beispiel, wenn es „Mal wieder eine rauchen“ oder „Sich gegen 18 Uhr einen Drink genehmigen“ heißt. Wirklich hilfreich erscheint dagegen, wenn sie uns auffordert ‚Jeden Tag ein Gedicht auswendig oder ein Instrument zu lernen’. Von besonderem Reiz das Kapitel „Alte Liebesbriefe lesen“, worin Goethe, Katherine Mansfield, Daniel Glattauer oder Siegfried Unseld zu Wort kommen. Nicht zuletzt können wir Andrea Gerk nur zustimmen: „Jetzt kommt es nur darauf an, die Gunst der Stunde zu erkennen und das Leben beim Schopfe zu packen.“ Mit diesem so klugen wie pointenreichen kleinen Band zur Seite kann da wirklich nicht viel schief gehen. Und das nicht nur für Generation 50 plus.
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Kein & Aber-Verlag Zum Archiv
Siehe auch: den Sachbuch Tipp David Wagner: "Sich verlieben hilft"