Buchtipp Juni und Juli 2024

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Literatur als Weg der Selbstfindung

Theodora Bauer: Glühen, Rowohlt, Berlin 2024

Nach dem Debut „Das Fell der Tante Meri“ und „Chikago“ der inzwischen vierunddreißigjährigen Wienerin und Erfolgsautorin Theodora Bauer folgt nun also „Glühen“, eine Spurensuche auf 123 Seiten, zugleich unverhoffte Liebesgeschichte. Ein Roman, der von Sinndefizit und Leere menschlicher Existenz in apokalyptisch anmutenden Zeiten kündet, erzählt in lakonischer Distanz.

Wenn ein Leben aus dem Gleichgewicht gerät, gilt es etwas zu ändern. Für Protagonistin ‚Lima’ steht fest, dass sie dringend eine Auszeit benötigt. Als Geisteswissenschaftlerin mit Schwerpunkt weibliches Begehren bei Arthur Schnitzler beschäftigt sie sich nahezu ausschließlichen mit dem Medium Text. Unentwegt liest sie. Bücher, literarische und wissenschaftliche Abhandlungen. Selbst publiziert sie Beiträge für Fachzeitschriften. Um das universitäre Umfeld für zwei Wochen hinter sich zu lassen, bietet sich eine „Sommerfrische“ in den Bergen an. Tief in ihr der Wunsch, dem abstrakt vertexteten Dasein etwas entgegenzusetzen, wieder pulsierende Lebendigkeit außerhalb des vergeistigten Alltags zu spüren. Ganz Frau sein, sich verlieben, wieder einmal ‚glühen’.

Magisch mutet in diesem Kontext die Begegnung Limas mit dem Senner vor Ort, Michael, an. In sinnfälligem Kontrast zum universitären Umfeld, aus dem sie kommt, der Strudel an Sehnsüchten, Begierden und erotischen Phantasien, in den sie gerät, und mit dem sie sonst allenfalls in den von ihr zu bearbeitenden Romanen in Berührung gekommen ist. Dabei scheint sich ein weibliches Begehren Bahn brechen zu wollen, frei von männlicher Zuschreibung. Denn Frauen, die ‚(auf)begehrten’, „wollten neben ihrem Begehren auch noch als Mensch existieren“. Zugleich vermischen sich dabei die Ebenen, sodass sich geistige und real erlebbare Welt nicht so einfach trennen lassen, auch Träume von Bedeutung sind. Dementsprechend kommt es immer wieder zu einer Auseinandersetzung der Protagonistin mit der vornehmlich von Männern verfassten Literatur und deren Sprachbegehren, sprich dem ihrem Wort beigemessenen Gewicht:

"Meistens gab es Worte, die zu viel wollten oder das Falsche, oder es gab zu wenig Worte. Die richtige Dosis von Worten nannte man Literatur. Davon gab es wenig. Es war eine hohe Kunst, die Menschen mit den Worten nicht zu vergiften oder sie verhungern zu lassen, an der ausgestreckten Hand, sie zu unterfüttern, ihnen den Stoff zum Denken zu nehmen oder sie darunter zu begraben, dass sie ganz dumm wurden. Sie mochte Literatur, weil sie ernsthaft bestrebt war, der Welt die richtige Menge an Worten zukommen zu lassen. Vielleicht beschäftigte sie sich mit Literatur, weil sie Rezepte, Anleitungen, Lösungen erkennen wollte." Leseprobe

Geschichte,Literatur und Philosophie lsssen Lima nicht los. Und unschwer lässt sich Goethes „Faust“ erkennen, wenn der Protagonistin ein Pudel hinterherläuft, den sie verscheuchen will. Die Frage nach des Pudels Kern’ folgt auf den Fuß. Und nicht ohne Ironie vernehmen wir von seiner Besitzerin, der Wirtin, die Lima beherbergt, dass der Pudel ein Weibchen namens „Luzi“ sei. Es hält Lima den weißen Bauch hin, die der Aufforderung folgt und das Tier krault. Der Name Charona der Wirtin gemahnt wiederum an Charon, jenen Fährmann aus der griechischen Mythologie, der über den Fluss Styx ins Totenreich führt, was auf die Vielstimmigkeit des Romans verweist. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Liebesgeschichte zwischen Lima und Senner Michael, der Erzengel Michael nachempfunden sein mag, mystische Züge trägt, inwiefern der Topos ‚Liebe und Tod‘ hier mitschwingt, desgleichen Goethes ‚Stirb und Werde‘, wie der Schluss des Romans nahelegt:

 "Es gab ein Zurück, aber dahin wollte sie nicht mehr. ... Sie würde sich langweilen in einem Leben. ... Lima fand eine kleine Kuhle. ... Sie ließ sich nieder und legte sich hin. ... So sollte ihre Geschichte enden, sie würde dieses Ende bestimmen ... Ein Aufbegehren, Feuergestalten, die jede Sekunde entstanden und vergingen. Ein ungleichmäßiger Rhythmus, ein Pulsieren der ganzen Welt. So viel Schönes, so viele Enttäuschungen. Ist es das alles wert gewesen, dachte sie, und habe ich am Ende doch etwas verstanden?" Leseprobe 

Doch lesen Sie selbst den Text, lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag

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