Buchtipp des Monats Dezember 2024

© Hartmut Fanger

Meditation leicht gemacht ...

 Dieses Buch soll nicht verschlungen, sondern gelebt werden. Richard Dixey  

 

Richard Dixey: Drei Minuten am Tag. Mit Meditation zu einem ausgeglichenen Leben. rororo Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. Aus dem Englischen von Anja Schünemann

Auf der Suche nach Erkenntnis, nach Möglichkeiten, Hektik und Stress im alltäglichen Leben etwas entgegenzusetzen, stellt uns der promovierte Biophysiker mit Magisterabschluss in Wissenschaftsgeschichte Dr. Richard Dixey eine einfache Methode vor. Dabei gleicht sein vom Buddhismus inspiriertes Engagement einer Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Spiritualität.

Täglich drei Minuten meditieren. Und dies vierzehn Tage lang. Das müsste doch für jeden trotz vollem Terminkalender zu bewältigen sein. Entgegen den traditionell langandauernden Sitzungen zeitgemäß. Ein, wie bereits im Vorwort zu vernehmen, dennoch ‚kühner Anspruch‘. Es gilt, in verhältnismäßig kurzer Zeit ‚mit Hilfe der Meditation tiefe Einblicke in die persönliche Erfahrung zu gewinnen‘, die nicht so einfach angelesen werden kann, vielmehr praktiziert werden muss, um die gewünschte Zielsetzung zu erreichen.

Die Vorgehensweise des von ‚hochrangigen tibetischen Lehrern‘ ausgebildeten Autors ist dementsprechend unkonventionell. So empfiehlt er gleich zu Beginn, ‚das Buch nicht von vorn bis hinten durchzulesen‘, stattdessen vor allem jeweils nach Lektüre der Einleitung und weiterer Kapitel die vorgegebenen Meditationen zu praktizieren. Und zwar täglich. Und das sieben Tage lang. Wobei es sich laut Autor um eine durchaus „ergiebige und erfüllende Praxis“ Leseprobe handelt, „mit der man andere Elemente eines guten Lebensstils in ihrer Wirkung verstärken kann, sei es Tagebuchschreiben, Gebet, Kontemplation oder anderes. Leseprobe

Anschaulich führt Dixey vor Augen, wie es möglich ist, sich in kurzer Zeit zu besinnen, wieder zur Ruhe zu gelangen und den Blick zu schärfen. Er vergleicht dies mit einem mit feinem Schlamm gefüllten Wasserglas. Durch Umrühren des Inhalts getrübt, wird das Wasser darin erst wieder klar, nachdem der Schlamm auf den Grund gesunken ist. So gewinnt auch der Meditierende auf Dauer Durchblick.

Der Blick auf eine Kerze, die Beschäftigung mit einem imaginären weißen Ball, ja sogar der Genuss von Schokolade können für eine Meditation hilfreich sein. Doch tun sich auch Hindernisse auf. Hier zählt Dixey fünf auf, die, aus dem Indischen entliehen, als „Nivarana“ bezeichnet werden: ‚Aufgeregtheit und Stumpfheit, Anziehung und Abneigung sowie Zweifel‘. Allesamt ‚Störfaktoren‘, die einen dazu bringen mögen, in Tagträume abzudriften, alles anzuzweifeln. Wichtig dabei ist, sich nicht allzu sehr dagegen zu wehren, sondern die Gedanken wahrzunehmen, um sie dann wieder gehen zu lassen und seine Aufmerksamkeit erneut in Richtung des zur Meditation ausgewählten Gegenstandes zu lenken. Zu jedem Kapitel gibt es am Schluss einen Abschnitt mit „Fragen und Anmerkungen“, die das Thema noch einmal vertiefen und zur Abrundung beitragen.

Dixey: “Meditieren ist eine Fähigkeit, die man wie Skilaufen, Stricken oder Geige spielen erlernen kann.“ Leseprobe  Es ist seiner Meinung nach “... für sich genommen keine religiöse Praktik, vielmehr eine Methode, mit unserer eigenen Erfahrung zu arbeiten. Meditation ist ein Weg, etwas zu tun, das wir in der heutigen Zeit allgemein nichtt so oft tun, nämlich unsere eigene Erfahrung als Erfahrung zu betrachten.“ Leseprobe

Doch probieren Sie es aus, lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg!                                                                                                   Archiv

© Hartmut Fanger

Wie sich in der Welt zurechtfinden

Wie ein junger Mentalist das Denken revolutioniert

 

Timon Krause: Sei deiner Zeit voraus. 13 Denkprinzipien für die Welt von morgen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024

 

Für den 1994 geborenen Autor befinden wir uns in einer sich ständig wandelnden Welt ‚auf der Kippe‘, können mental und emotional kaum mehr mithalten. Viele ‚fühlen sich verwirrt, deplatziert oder gänzlich verloren‘. Dies gilt für sämtliche Generationen, sei es die der Großeltern, des Autors selbst, sei es die Jugend. Um diesen Zustand auf ein allgemein erträgliches Maß herunterzubrechen, bedarf es nach Krause einer neuen Denkweise. Denn ‚wie sollen wir uns zurechtfinden, wenn zum einen Wahrheit verlangt, diese zum anderen im selben Moment entkräftet wird‘? Dabei geht er dem von ihm postulierten neuen Denken auf den Grund: vom ‚indigenen (oder magischen), prämodernen (religiösen), über das moderne (oder wissenschaftliche), bis zum postmodernen (oder künstlerischem) Denken‘. Spannend die Ausführungen über den hier anschließenden, aus der Kunsttheorie hervorgegangenen „Metamodernismus“, einem ‚Mix aus Philosophie, Psychologie und Selbsthilfe‘, der sich seit den 2000er Jahren als Strömung zwischen Moderne und Postmoderne etabliert hat:

 

“[Z]wischen Hoffnung und Melancholie, zwischen Naivität und Realismus, zwischen Empathie und Apathie, zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Totalität und Fragmentierung, zwischen Eindeutigkeit und Ambiguität ... “ (Jonathon Rowson, Metamodernism, 2021, frei übersetzt von Karl Hosang)

 

Innere, gerade dem Künstler eigene Beweggründe, der ‚stets auf der Suche nach Möglichkeiten ist, aus aktuellen Denkstrukturen auszubrechen‘. Wie Kunst überhaupt einen Übersetzungsprozess darstellt. So zum Beispiel, wenn eine real aus dem Umfeld beobachtete Szene vom Kunstschaffenden zu einem Kunstwerk neu arrangiert wird, indem es „individuell verarbeitet, verdichtet, zugespitzt, eingefärbt, persifliert“ in einem Bild, einem Text oder einem Musikstück zum Ausdruck kommt.

 

Doch damit nicht genug. Wie bereits der Untertitel verrät, stellt Krause in Theorie und Praxis 13 Denkprinzipien vor, die uns allesamt auf ein Denken von morgen vorbereiten sollen. Dazu ist es gut zu wissen, wie das Denken besagter alter Strukturen, wie das des „Ur-Ur-Ur-Ur-Uropas“ und der „Ur-Omas“ funktioniert, um so die Welt, die ihren Zauber verloren hat, neu als ‚einen Baukasten‘ zu begreifen mit der Möglichkeit, selbst ‚ein Kunstgenie‘ und/oder ‚ein Buddha zu sein‘ ... und so zu einer „Neuverzauberung“ zu gelangen, wieder mehr ‚Karussell zu fahren...‘ Nicht zuletzt helfen dabei Meditationen zur ‚Verbesserung der mentalen Gesundheit‘, wozu es hier einige Anleitungen gibt. Zwölf Minuten täglich sollen schon ausreichen.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!            

  

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag

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Buchtipp des Monats Mai-Juni 2024

© Hartmut Fanger

 

Ein Ort zum Heilen gebrochener Herzen

 Well, since my baby left me/Well, I found a new place     to dwell/Well, it's down at the end of Lonely Street/At Heartbreak Hotel/Where I'll be ...

“Elvis Presley: „Heartbreak Hotel“,

Text:/Komposition: Mae Boren Axton/Tommy Durden

 

Alice Haddon, Ruth Field: The Heartbreak-Hotel. Dein Herz ist gebrochen, du bist es nicht. Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.

 

Bereits der Titel, „The Heartbreak Hotel. Dein Herz ist gebrochen, du bist es nicht“ ist richtungsweisend. Wir sind nicht unsere Gefühle, auch nicht in Zeiten, in denen wir unter gebrochenem Herzen leiden mögen. Wir sind auch in der Lage, sie zu steuern. Es geht darum, daran wieder anzuknüpfen, von der Ohnmacht in die Selbstermächtigung zu kommen. Eben dazu zeigt dieses Buch Wege auf. In diesem Sinne bietet es eine Art Zufluchtsort, an dem man sich aufgehoben fühlt, Einsamkeit gemildert wird, man mit dem Problem nicht allein bleibt.

Die Autorinnen – Alice Haddorn, an der Londoner Universität unterrichtende Psychologin, und Ruth Field, ehemalige Strafverteidigerin sowie erfolgreiche Verfasserin von Ratgebern – zeigen auf 240 Seiten dezidiert auf, dass mit dem Scheitern einer Beziehung nicht nur eine Liebe endet, sondern zugleich ein ganzes, aus ‚gemeinsamen Freunden, Erlebnissen, Lieblingsorten und einer gemeinsamen Geschichte bestehendes Netzwerk’ wegbricht.

Das daraus entstehende Gefühlschaos veranschaulicht ein entsprechendes Cluster. Da kommen ‚Wut, Verwirrung, Verrat,  Scham, Verlorenheit, Angst, Zorn, Leere und vor allem Traurigkeit‘ auf. Alles Faktoren, die im Einzelnen analysiert und durchgearbeitet werden.

Spannend die Lösungsmodelle, wie zum Beispiel die Aufgabe, die bedrängenden Geschichten aufzuschreiben. Dabei wird deutlich gemacht, dass Gedanken und Gefühle, erst einmal zu Papier gebracht, in der Regel für Abstand sorgen. Das Erlebte kann von außen betrachtet werden, man gewinnt ‚Klarheit’ und kommt womöglich somit zu einer ‚Neubewertung’.  Dabei sollte ‚ausdrücklich mit der Hand geschrieben werden’, weil dies näher an die Gefühle heranreiche. Von Vorteil hat sich gleichwohl erwiesen, dies gemeinsam, innerhalb einer Gruppe zu tun und sich im Zuge dessen mit anderen Betroffenen auszutauschen, deren Erfahrungen wiederum hilfreich sein können, die Krise zu überwinden. Plastisch werden Gruppensitzungen solcher Art szenisch umgesetzt und beschrieben. Insbesondere das Vorlesen des Geschriebenen und die Stellungnahme der Gruppenmitglieder sind von Bedeutung. Drohen aufkommende Emotionen zu heftig zu werden, werden Methoden eingesetzt ‚einen Anker zu werfen und zu warten, bis der Sturm vorüber ist’, was den Beteiligten Sicherheit gewährt und wozu auch spezielle Meditationstechniken vorgestellt werden.

Im Wesentlichen geht es darum, Gefühle zulassen zu können, gerade Gefühle, die man nicht unbedingt nachempfinden will, wie Trauer, Wut, Schmerz, die uns jedoch wichtige Hinweise geben, wo die Knackpunkte sind, die es zu lösen gilt. Zugleich stellen sie ‚ein Barometer dar, das anzeigt, wann man handeln soll und wann besser nicht’.

Alice Haddon und Ruth Field haben dazu ein auf Fürsorge und Verständnis beruhendes Konzept entwickelt, das die Betreffenden wirksam unterstützt, durch diese Engpässe hindurchzugehen, mit dem Ziel, wieder in die eigene Kraft zu kommen.

Auch wenn „Heartbreak Hote"l als Retreat für Frauen verfasst wurde, die sich in Trennung von einem Partner, einer Partnerin befinden, wird sich so mancher Mann in ähnlicher Situation gleichwohl darin aufgehoben fühlen. Und so mancher mag sich dazuhin an den Song von Elvis mit dem gleichnamigen Titel aus dem Jahre 1956 erinnern. Ein Lied, das zwar von einer Frau, der „Queen Mother of Nashville“ Mae Boren Axton, geschrieben, von Elvis jedoch zu einem Millionenhit ersungen wurde. Bei Bruce Springsteen heißt es 22 Jahre später wiederum: “Wirf die Träume fort, die dein Herz gebrochen haben, werfe die Lügen weg ...“ („Blow away the dreams that tear you apart/Blow away the dreams that break your heart/Blow away the lies that leave you nothing but lost and brokenhearted.“)

Doch lesen sie selbst, lesen sie wohl.

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt-Verlag

 

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Buchtipp des Monats Januar-Februar 2024

© Hartmut Fanger

 "Man kann nicht leben, wenn man nicht heiter ist " Jean-Jacques Sempé        

 

Axel Hacke:. Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte, DuMont Buchverlag, Köln 2023

 

Ein 'in schwierigen Zeiten' in der Tat zu empfehlendes Buch! Bereits aus dem Titel geht hervor, dass sich Heiterkeit nicht vom Ernst des Daseins trennen lässt. Umso mehr stellt sich für Axel Hacke angesichts der aktuellen Gegebenheiten, wie Klimawandel, Kriegswahnsinn, Bedrohung einer zerbrechlichen Demokratie die berechtigte Frage, inwieweit es noch legitim ist, sich mit solchen Sehnsüchten zu beschäftigen. Dazu ein nicht uninteressanter Vergleich mit dem Jahr 1985, wo die Bedrohung angesichts ‚sterbender Wälder, steigender Arbeitslosigkeit und ganzer Legionen von Atomraketen’ ähnlich aussichtslos ausgesehen haben mag. Und war die Menschheit nicht schon immer bedroht?  Hat es überhaupt je Zeiten gegeben, in denen „Heiterkeit am Platze war“? Schnell stellt sich für den Autor der Verdacht ein, dass „hinter der Furcht vor Dürren und Hochwasser, [den] Eisschmelzen und Starkregen als Vorboten des allgemeinen Untergangs ... unsere jeweils ganz private Todesangst lauert“. Leseprobe

Nicht zu leugnen, die letzten Jahrzehnte waren anstrengend und riefen eher den Ernst des Lebens als unsere Heiterkeit auf den Plan:

„Der Zeitbefehl heute lautet: Sei authentisch! Dulde nichts, was nicht ganz du selbst bist! »Die Folgen«, so Pfaller [österreichischer Philosoph], »sind Unfähigkeit zum Genuss, Erschöpfung, Depression, Ängstlichkeit, Hass auf das Glück des anderen...«“ Leseprobe

Heiterkeit wiederum setzt dem etwas entgegen, vermag nach Axel Hacke nicht zuletzt Trost zu spenden, wenn der Ernst Oberhand zu gewinnen droht. Gerade dann erweist sich Heiterkeit oft als bewährtes Gegenmittel, dem Ernst ein Schnippchen zu schlagen, ihm zu entkommen.

Doch was genau macht eine solche Heiterkeit aus. Grundsätzlich scheint ihr eine Sehnsucht nach dem Guten im Leben, dem guten Leben schlechthin, innezuwohnen. Aspekte, die hier mitschwingen, sind etwa das  „Lachen, der Witz, Komik, Alkohol, Humor, Lächeln, Freundlichkeit“ – allesamt Faktoren, denen der Autor auf 224 Seiten nachgeht. Dabei kommen schillernde Namen der Weltliteratur, Philosophie und Musik zum Tragen. Von Seneca bis Wilhelm Schmid, von Goethe bis Christoph Ransmayer oder etwa der unvergessliche, einst von den Nazis verfolgte Kabarettist Werner Finck. Und wer erinnert sich nicht an den mit Sean Connery verfilmten Roman Der Name der Rose von Umberto Eco, in dem Mönch Jorge den bedeutsamen Satz „Lachen tötet die Furcht“ äußert. Oder an den Club der Toten Dichter mit dem brillanten Schauspieler und Komiker Robin Williams, dessen Person Tragik und Komik unmittelbar in sich vereinte und von dem bekannt ist, dass er unter Depressionen litt, sich am Ende das Leben nahm. Ebenso wie Woody Allens Der Stadtneurotiker an dieser Stelle nicht fehlen darf.

Aber auch Klassiker der Fernsehwelt wie das von Beginn der 60er bis Ende der 80er Jahre beliebte heitere Beruferaten „Was bin ich“ von und mit Robert Lemke kommen von Axel Hacke in nahezu liebevoller Erinnerung gleich zu Beginn ins Spiel. Und natürlich dürfen Großmeister des Humors wie Loriot nicht unerwähnt bleiben, von dem Hacke schreibt, dass  „Niemand ... wie er die Deutschen bis zur Kenntlichkeit karikiert [hat]. Aber weil er das so charmant und heiter tat, haben sie sich wiedererkannt.“ Leseprobe

Oder Sigmund Freud und dessen Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, worin deutlich wird, dass das „Wortspiel, die Kürze, die Prägnanz, die Sinnverschiebung, die Verdichtung, die Abweichung vom üblichen Denken, übrigens auch das Hinkonstruieren auf eine Pointe“ Leseprobe das Charakteristische des Witzes ausmache.

Nahezu jede Zeile mag hier unsere Sehnsucht inspirieren, ‚ein von Grund auf heiteres Wesen zu sein’ – sei sie noch so unerfüllbar. Nichtsdestotrotz kann es wenigsten in Ansätzen funktionieren. Wenigstens ‚ein bisschen’, wie Axel Hacke am Schluss festhält. Heiterkeit in seinem Leben gewährt ihm schließlich das Schreiben, das Bewegung hineinbringt, eine gewisse Leichtigkeit und ‚Licht am Ende eines schummrigen Tunnels’ in Aussicht stellt. Nicht zuletzt verschafft die Heiterkeit Distanz zum eigenen Leben, eröffnet die Möglichkeit, es als Spiel zu begreifen.

Nach dieser so leicht daherkommenden wie kenntnisreichen und heiteren Lektüre möchte der Leser jedenfalls mehr davon in seinem eigenen Leben realisieren.

Doch lesen Sie selbst, lesen sie wohl!

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Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dumont Buchverlag in Köln

Buchtipp des Monats Dezember 2023

 © Hartmut Fanger

 Ein Leben für Bücher und ihre Autoren

Michael Krüger: Verabredung mit Dichtern Erinnerungen und Begegnungen

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2023

 

Zu seinem 80. Geburtstag erzählt Michael Krüger, einstiger Verleger des Hanser-Verlages in München, aus seinem Leben. Dabei scheint es ihm unmöglich, das Ganze in einen ‚erzählbaren Ablauf‘ zu bringen, ist im Rückblick doch alles ungewiss, vieles wiederum verschwimmt. Und hat er von dem einen oder anderen Geschehnis ein klares Bild vor Augen, fällt es ihm schwer, es in Worte zu fassen. Doch bei all dieser selbstkritischen Einschätzung bietet das Buch einen lebensprallen Einblick in die außergewöhnliche Vita des großen Verlegers.

So erfahren wir von der trotz Krieg behüteten Kindheit bei seinen tief religiösen Großeltern auf dem Land in Sachsen-Anhalt, die ihm beim Erzählen der biblischen Geschichten die Liebe zur Literatur sozusagen ‚in die Wiege gelegt haben‘, bilden die Geschichten der Bibel doch den Grundstein der abendländischen Literatur schlechthin. Ein großes Stück Historie wird dann im Zuge der Schilderung seines Heranwachsens in der geteilten Stadt Berlin transparent. Dass Michael Krüger nicht, wie einst von ihm favorisiert, Landwirt oder Förster geworden ist, sondern sich für eine Verlagslehre in der Verlagsbuchhandlung Herbig (Berlin) entschied, ist wiederum ein Glück, sowohl für die Verlagswelt als auch die Leserschaft.

So werden wir Zeugen eines beachtlichen Werdegangs, wobei er Einblick in die Verlagswelt wie u.a. besagten Carl Hanser Verlag gewährt. Darüber hinaus säumen seinen Weg berühmte Verlegernamen wie Klaus Wagenbach oder wegweisende Figuren und namhafte Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg, Mitglieder der Gruppe 47, wie etwa Walter Höllerer, und geben entscheidende Impulse. Überdies findet sich im Zuge all dieser Begegnungen jede Menge Zeitkolorit. So, wenn er sich an die sechziger und siebziger Jahre erinnert, an jenen Aufbruch, der 1968 seinen Lauf nahm, gefolgt von den bald insbesondere von Reinhard Lettau und Klaus Wagenbach mit angestoßenen Anti-Vietnam-Demonstrationen. In den Siebzigern vor allem die von Adam Zagajewski unterstützte Solidarność-Bewegung in Polen.

 

Einen Schwerpunkt bilden nicht zuletzt die zahlreichen weltweiten Freundschaften mit namhaften Figuren der damaligen literarischen Szene, sei es in Italien, Schweden oder Polen – Italo Calvino, Lars Gustafsson, Adam Zagajewski, um nur einige zu nennen. Und dann sind da natürlich noch die literarischen Meisterwerke, wie etwa die in den 90ern erschienen holländischen Romane von Harry Mulisch mit „Die Entdeckung des Himmels« oder »Die Gesetze« von Connie Palmen, »Erst grau, dann weiß, dann blau« von Margriet de Moor oder »Die folgende Geschichte« von Cees Nooteboom.

 

Doch auch am literarischen Glanz und Glamour inspirierender Metropolen wie etwa London haben wir als Leser teil, wo Michael Krüger in jungen Jahren dank Alastaire Hamilton, Sohn des Verlegers Hamish Hamilton, leben und im legendären Harrods arbeiten konnte und maßgeblich den Aufbau des International Book Departments vorantrieb. „Nicht Paris, nicht Rom oder gar Berlin war das Zentrum der Welt, sondern London, und Harrods war gewissermaßen das Herz des damals immer noch großen British Empire.“ Leseprobe

 

Aber auch Lindos auf Rhodos erweist sich als Lebensstation, wo sich Michael Krüger in einem Haus von Gregor von Rezzori zurückzieht und der Musik seines dortigen Nachbarn, David Gilmour von Pink Floyd, lauscht.

 

Verfolgt man all die Stationen, forscht man all jenen erwähnten Dichtern und Büchern nach, so stößt man unweigerlich auf den Gedanken, dass es sich bei dem vorliegenden Werk um ein Mammutprojekt handelt, das womöglich einer Fortsetzung bedarf. Und tatsächlich heißt es am Schluss, dass es noch so vieles zu berichten gebe. So fehlten die Schweizer Autoren ebenso wie man die Franzosen, Spanier, Portugiesen vergeblich suche. Weder finde man Dichter aus dem Baltikum oder aus Russland, aus der Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, kein Grieche, kein Türke, von japanischen Dichtern oder chinesischen ganz zu schweigen.

All dies soll in einem weiteren Band folgen. „Es bleibt also noch viel zu tun“, heißt es. Und wir dürfen gespannt darauf sein.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2023

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Buchtipp des Monats November 2023

  Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei

Tage vor ihrem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen.

Wir waren die, denen es schlecht ging. Wolf Haas

 

 © erf: Requiem auf eine Mutter

Wolf Haas: Eigentum, Carl Hanser Verlag, München 2023.

 

Der Tod der eigenen Mutter macht etwas mit einem. Wie Wolf Haas ihn hier literarisch verarbeitet, macht wiederum etwas mit dem Leser. Den inneren Aufruhr angesichts eines solchen Abschieds für immer versteht er so fantasievoll wie facettenreich, vor allem aber vibrierend lebendig nahezubringen. Ein Vakuum zwischen Trauer und Fassungslosigkeit. Erzählerischer Tiefgang, der zugleich so lächerlich wie skurril anmutet. ‚Ein Leben im Mangel‘ ist mit diesem Tod zu Ende gegangen, geprägt von Mühen, Nöten und finanziellen Engpässen. Der Titel des Romans, Eigentum, bildet die Leerstelle im Leben dieser Mutter, um die sich alles dreht. Kurz davor, ein solches in Form einer Immobilie zu erwerben, kommt die Inflation. Da heißt es „nichts wie sparen, sparen, sparen“. Aus die Maus mit dem Traum vom eigenen Grund und Boden, vom Eigenheim. Makaber, nicht ohne schwarzen Humor, dass der einzige Grund und Boden, den die Mutter am Ende ihr Eigen nennen kann, das Familiengrab ist – das zu Allerheiligen und Allerseelen zu besuchen, sie aber aus unerfindlichen Gründen stets verweigert hat.

 

Und während Haas das entbehrungsreiche Leben dieser Mutter Revue passieren lässt, die daraus auf ihre Weise durchaus Kapital zu schlagen wusste, befindet er sich zugleich inmitten der Vorbereitungen zu seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Frappierend die Diskrepanz zwischen der abgezirkelten Welt universitärer literarischer Auseinandersetzung und dem Sterben der Mutter, der das Leben nichts geschenkt hat, die, am Ende, 95jährig, dement, doch glücklich scheint. Farbig, voller Eigensinn und mit trotzigem Beharren auf ihrem kleinen Glück versteht Haas es, sie dem Leser nahezubringen. Zärtlich und bestürzt, voll Schmerz, aber auch Komik erzählt er uns aus ihrem Leben und davon, wie es sein eigenes geprägt hat.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Carl Hanser Verlag, München 2023

 Archiv

Buchtipp des Monats September 2023

© Hartmut Fanger

Großes Theater ...

Machismo im kommunistischen Polen der 70er Jahre und Gewalt gegen Frauen

Dorota Masłowska: Bowie in Warschau, Rowohlt Verlag, Berlin, Januar 2023. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.

In diesem Buch der erfolgsgekrönten polnischen Autorin Dorota Masłowska ist vieles anders als Genrebezeichnung und Titel es vermuten lassen. 

Wer einen Roman im klassischen Sinne erwartet, sieht sich getäuscht. Stattdessen werden wir von Beginn an mit großem Theater, mit Regie- und Sprechanweisungen für die Bühne konfrontiert. Eine Inszenierung, die in Polen dann auch als Theaterstück zu erleben ist. Und wer sich unter besagtem Titel ein Buch über David Bowie vorgestellt hat, wird gleichfalls enttäuscht. Nur kurz, zu Beginn und am Ende, tritt der britische Sänger, Liedermacher und Rockstar in Erscheinung. So wie er sich auch in Wirklichkeit 1973 nur kurz in Warschau aufgehalten hat. Die Tatsache, dass er sich vor Ort in einem Buchladen mit polnischen Schallplatten eingedeckt und später mit «Warszawa» ein bemerkenswertes Musikstück geschaffen hat, reicht der 1983 geborenen Autorin aus, um ihre Fantasie spielen zu lassen und ein kontrastreiches Bild vom Polen der frühen 70er Jahre zu zeichnen. Der sich auf der Fahrt mit dem Zug zwischen Moskau und Berlin in Warschau aufhaltende Musiker wiederum steht in sinnfälligem Widerspruch zum realen Kommunismus dieser Zeit, wirkt wie aus dem Himmel gefallen. (Nicht zu verwechseln mit dem Science-Fiction-Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“ aus dem Jahr 1976, in dem David Bowie die Hauptrolle spielt)

Doch Bowie selbst spielt hier, wie oben bereits angedeutet, eben nicht die Hauptrolle. Von ihm ist dementsprechend wenig zu erfahren. Stattdessen wird jede Menge einer von Armut geprägten Gesellschaft offenbar, in der, was die Beziehung zwischen Männern und Frauen anbelangt, archaische Verhältnisse vorherrschen. Gewalt gegen Frauen das eigentliche Thema. Nicht umsonst schreibt der Polizeizugführer Wojciech Krętek gleich zu Beginn davon, dass zwar auf der einen Seite ‚Neue Stadtviertel emporschießen, prosperierend, modern, zum anderen jedoch die alten verkommen‘. Letztere bezichtigt er als

„Schnapsnester. Kuppelbuden. Versiffte Löcher an der Aleje, darin fünfzehnjährige Prostituierte. Von ihren Stenzen werden sie kurzgehalten. Ich nenne sie Zahnärzte, denn die Mädchen kriegen regelmäßig ihre Vorderzähne per Faust entfernt.“ Leseprobe

Zwei Frauen verkörpern die Hauptrollen: Da ist zum einen jene erschöpfte und ewig putzende Frau Nastka, „... die nach Jahren unter Dauerbeschuss von Unglück und Schicksalsschlägen wie vierzig und achtzig zugleich aussieht“ Leseprobe, zum anderen die schöne und träge Regina, die, nicht weit von  Suizid entfernt, die Absicht äußert, sich gleich in die Weichsel zu stürzen. Die eine wird von ihrem Mann wie ein Gegenstand behandelt, die andere geschlagen.

Harte Themen also, jedoch satirisch überzeichnet und immer wieder komisch, dabei mit Verve, erzählt. Und Bowie eignet sich prima als Art Pendant dazu, da er wie von einer anderen Galaxie in Erscheinung tritt und das Leben der Protagonisten gehörig durcheinanderbringt. So wird er von besagtem Polizisten als jener „Damenwürger“ verdächtigt, der einst ganz Warschau in Schach gehalten hatte, vom schriftstellernden Buchhändler wiederum mit dessen Erzfeind und erfolgreichen Autor Krempiński verwechselt.

Am Ende muss Bowie im Zuge einer irrwitzigen Hetzjagd aus Warschau flüchten. Wie es dazu gekommen ist und was das für den Einzelnen bedeutet, lesen Sie auf den letzten Seiten. Bis dahin jedoch mögen Sie jede Menge Unterhaltung mitnehmen, reines Lesevergnügen anhand bestechend scharfer Dialoge und manch überraschender Wendung, kurz, sich von der Schreiblust der Autorin – vom Übersetzer übrigens blendend transportiert – anstecken lassen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in  Hamburg   

                                                                                                                         Archiv

 

Buchtipp des Monats Juli 2023

 

Ich versuche, über diese Zeit zu schreiben, die in mir fehlt, die in diesem Kind stecken geblieben ist.

Vielleicht ist Heimat kein Ort, sondern eine Zeit.

Kim de l‘Horizon

 © erf: Schreiben vom Körper her

Kim de l‘Horizon, Blutbuch. Dumont Buchverlag, Köln 2022

Der u. a. 2022 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman, eine queere Spuren- und Selbstfindungssuche, hat von Beginn an Aufsehen erregt. Dies mag sich nicht zuletzt der losen, keinem traditionellen Schema folgenden, fragmentarischen queeren Erzählstruktur verdanken mit sprunghaftem Wechsel zwischen diversen Textsorten. Authentische, keinen Vorgaben folgenden Suchbewegungen, in denen die eigene, ebenso wenig festgeschriebene geschlechtliche Identität sich facettenreich spiegelt. Von der Jürgen-Ponto-Stiftung noch vor seiner Veröffentlichung als „Blitzschlag“ ausgewiesen und mit einem Preis versehen – das lässt aufhorchen.

 

Anlass, sich schreibend aufzumachen und der eigenen, zwiegespaltenen Identität nachzuspüren, ist die an Demenz erkrankte Großmutter und die Erforschung der weiblichen Blutlinie sowie die Verortung des eigenen Ichs darin ebenso wie in dem queeren Körper. Das heißt für Kim de l’Horizon, dass er/sie Phasen kennt, wo er/sie sich als hetero erlebt, und Phasen, wo er/sie davon Abstand genommen, sich mal in männlicher, dann wieder in weiblicher Identität wiedergefunden hat. Das Sowohl als auch löst das Entweder/Oder ab wie zugleich das Weder noch. Diese Mehrdeutigkeit auch im Text abzubilden, ist Anliegen dieses Buchs. Der Schreibprozess, so de l’Horizon, sei für ihn eine Metamorphose gewesen, dazu angetan, sich über den Umweg des Sprachkörpers seiner physischen Körperlichkeit anzunähern. Von Kind an begleitet von dem Gefühl, dass sein Körper nicht ihm gehört. Dass er für andere da ist. Nicht für ihn, um darin zu sein. Er kommt sich vor wie ein ausrangiertes Möbelstück, wo die Erwachsenen all das deponieren, was keinen Platz in ihrem Erwachsenenhorizont hat: „das Fühlen, das unerwünscht war, die Ängste, das Mannsein, das Frausein, die Wunden.“ Leseprobe

 

In einer von mehreren Präambeln zu Teil 1 lesen wir von der Yogalehrerin und Videokünstlerin Tabita Rezaire „Die Wunde ist das Land der Heilung“. Von der Etymologie her ist ‚Heilung‘ mit dem englischen ‚whole‘ = ‚ganz‘ verwandt. Zugleich scheint das Wort ‚Heilung‘ dem Prozess des Schreibens dieses Textes immanent zu sein. Die Wunde, das ist der versehrte, zurückgewiesene Körper, aus dem heraus ‚de l’Horizon‘ schreibt, der, in der Ambivalenz zwischen Mann und Frau zu verorten, keinen eindeutigen Ort hat, an dem er/sie sich zugehörig finden könnte. Vielmehr ist er/sie aufgefordert, sich im Dazwischen, dem Unbestimmten, zu definieren und somit neu zu erfinden, die Grenze zwischen dem einen und dem anderen auszudehnen, zu überschreiten. Das heißt, den Blick über den Tellerrand zu wagen, sich auf das, was jenseits davon ist, einzulassen. Unbekanntes Terrain, insofern riskant, schmerzhaft, sieht sich die Erzählfigur im Zuge dessen doch immer wieder genötigt, am Rand des Abgrunds zu lavieren. Andererseits ist es eben dieser Zwiespalt, der den Horizont erweitert und den Autor zugleich auf ‚die richtige Spur‘, Richtung ‚Land der Heilung‘, angesetzt haben mag. Dies Land verheißt nicht zuletzt, dass wir dann heilen, wenn wir vermögen, das Ganze in den Blick zu nehmen, sprich den ganzen Menschen, in seiner Vielfalt, seinen Abgründen und Ambivalenzen, in seiner Diversität und Leuchtkraft. Dies wiederum postuliert eine Bahn brechende Offenheit, äußerstes Gewahrsam die Dinge des Lebens betreffend. Eben dieses Risiko ist de l’Horizon eingegangen und hat es sprachlich mit Bravour gemeistert.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dumont-Verlag                                                                                                                                Archiv

Buchtipp des Monats April 2023

 

© erf Aufbruch ins Offene

 

Stille und unerklärte Lieben werden zu flügellosen Engeln,

der Schwerkraft unterworfen, genau wie wir. Etel Adnan

 

Love doesn’t die when we die ... it is our resurrection. (Zettel, an Etel Adnans Pinnwand geheftet)

 

Etel Adnan, Die Stille verschieben. Prosa, aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort von Klaudia Rutschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2022

 

Lebendigkeit und Luzidität, die von diesem letzten Band Etel Adnans (*1925, †2021) ausstrahlen, verdanken sich dem Wissen um die eigene Sterblichkeit, dem Bewusstsein der Todesnähe der hochbetagten Dichterin, Malerin und Philosophin. Der Schmerz, geliebte Orte nicht mehr besuchen zu können, zieht sich durch den Band. So auch der Abschied von dem Wunsch, in Delphi zu sterben. „Die Füße auf Delphis Felsen zu setzen, ist es wert, verdammt zu werden ... Für mich wird der Schmerz des Sterbens in der Unmöglichkeit bestehen, diese Stätte noch einmal zu besuchen.“ Leseprobe

 

Kontrapunktisch hierzu die unverbrüchliche Liebe Adnans zu den Ozeanen, „eine Form unaufhaltsamen Lebens“ Leseprobe Einer Liebe, einhergehend mit einer grundlegenden Melancholie, im Zuge derer Verluste weniger betrauert als vielmehr hingenommen werden. Hingenommen in der Haltung eines Nichtwissens, was kommen mag, nicht ohne die bange Erwartung eines unbestimmten Größeren, das zu erfahren uns vorbehalten sein könnte.

 

Auch verrät Adnan uns in diesen letzten Art Notaten, aus denen „Die Stille verschieben“ besteht, etwas über ihre ganz eigene Poetik, die nicht zuletzt mit derzeit zunehmend zu beobachtenden autofiktionalen Literaturen korrespondiert oder aber in gleichwohl immer häufiger anzutreffenden essayistischen Texten ihren Niederschlag findet: „Erzählung ist eine veraltete Form. Sie ist prähistorisch.“ Eine „Übung in Vergeblichkeit“ Leseprobe, im Verschwinden begriffen. Oder eine „Maskerade der Angst“ Leseprobe, die ‚uns nirgendwo hinträgt, außer zu den falschen Verlagen‘ Leseprobe. Naheliegend, dass dem traditionellen Erzählen im Zuge der Dichte und rasanten Aufeinanderfolge der Ereignisse, weltweiter Krisen und Katastrophen die dafür notwendige Distanz sowie entsprechende Kohärenz verwehrt ist.

 

Der gesamte Text, kaleidoskopartig aufgefächert, fragmentarisch, konfrontiert den Leser durchweg mit Fragen um die Vergeblichkeit menschlichen Strebens. So etwa auch die augenscheinliche Absurdität des eigenen Schreibens: „Und warum schreibe ich dann diese Zeilen, die der Welt nicht viel bringen? Eins von den Dingen, die Menschen tun, nichts weiter. In jedem von uns steckt der verborgene Glaube, irgendwie zu zählen, so wie wir sagen Black Lives Matter. Das stimmt.“ Leseprobe

 

Zugleich wird diese melancholische Grundierung immer wieder konterkariert mit einer unbändig anmutenden Sehnsucht nach Lebendigkeit, die die inneren Mauern zu sprengen vermag, die uns an einer Koexistenz von Mensch, Natur und Mitgeschöpfen in Frieden, Freiheit und gegenseitigem Respekt hindert: „Lasst uns springen und tauchen, dem Wind folgen, nass werden, uns sogar wehtun, lasst uns dem Yellowstone River die Chance geben, uns so umherzuschleudern wie Baumstämme und Lachse, lasst uns seine Gewohnheiten auf unsere trägen Gehirne übertragen!“ Leseprobe

 

Am Ende bewegt sich das Schreiben Adnans dem Zentrum ihres Seins zu, dem Kern der Existenz – die Stille. So die Stille in den Winkeln der Kathedralen, oder die besondere Stille mancher Berge. Stille, einhergehend mit einer Weite, die sich ins Offene dehnt, sich verschiebt, einhergehend mit der Dunkelheit, die den Gezeiten ihren Glanz verleiht. Zeiten, in denen sich das Denken zurückzieht, was laut Adnan keinen Verlust bedeutet. „Lange Zeiten innerer Stille sorgen für Klärungen, sie lassen das Licht ein, die Überflutung, die Blendung, die Verzauberung. Wir brauchen Räume, um neue Karten zu mischen ...“ Leseprobe

 

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Edition Nautilus!                    Archiv

Buchtipp des Monats März 2023

© erf

Vom Verschieben der Zeit

Etel Adnan, Zeit. Gedichte, mit einem Nachwort von Klaudia Rutschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2021

 „Schreiben stammt aus einem Dialog/mit der Zeit: es besteht/aus einem Spiegel, in dem das Denken/entblößt wird und sich/ nicht mehr erkennt“ Leseprobe – besagter Gedichtband in fünf Zeilen auf den Punkt gebracht, lyrische Zeichen aus Werden und Vergehen.

Anlass, die hier versammelten Poeme zu Papier zu bringen, war eine Postkarte, die Adnan am 27. Oktober 2003 von ihrem langjährigen Freund, dem tunesischen Dichter Khaled Najar, erhielt. Ihre Antwort erfolgte umgehend und ist hier in der ersten von sechs Sequenzen unter dem Titel „27. Oktober 2003“ nachzulesen. Insgesamt 13 Jahre steht sie im Zuge der Arbeit an dem Gedichtband im Austausch mit dem Dichterfreund. 2016 schließt sie ihn unter dem Titel „Baalbek“ ab – für Adnan mit seinen Tempeln und Ruinen ein mythischer Ort und Provinzhauptstadt im Libanon. Zusammen mit der New Yorker Dichterin und Künstlerin Sarah Riggs überträgt sie ihn aus dem Französischen ins Englische und wird 2020 dafür mit dem Griffin Poetry Prize, dem weltweit höchst dotierten Lyrikpreis, ausgezeichnet.

Die freien Verse fließen, einem reißerischen (Bewusstseins-) Strom gleich, in ein nicht definierbares Offenes, das die Grenzen unserer in Vorgaben und Konventionen gefangenen Wahrnehmungsmuster außer Kraft setzt: „in virtueller Klarheit und virtuellem Raum/vom Göttlichen heimgesucht, singen die Vögel vor/Ohren der Kerzen den Schmerz des Lebens,/denn Glück ist unerträglich ...“ Lesesprobe Zugleich ziehen sich Trauer und Schmerz angesichts der Vergeblichkeit menschlichen Strebens, der Diskrepanz zwischen Schönheit und enthusiastischer Feier des Lebens, der Liebe und der Allgegenwärtigkeit von Tod, Gewalt und Zerstörung wie eine Blutspur durch den gesamten Gedichtband. Dies gemahnt an Walter Benjamins „Angelus Novus“, einem Gemälde von Paul Klee, von Benjamin als Denkbild unter dem Titel „Engel der Geschichte“ ausgewiesen, mit rückwärtigem Blick auf die Geschichte des Menschen, einer einzigen Katastrophe, wo Trümmer auf Trümmer sich häuften.

„ich liebe den Regen, wenn er/mich wie ein Fluss/umfängt. mich in die Wolken verpflanzt./ich teile das Eigentum/des Himmels. ich wachse/wie ein Baum ...“ Lesesprobe Die unverbrüchliche Liebe zur Erde und ihrer schöpferischen Energie – Adnans Mutter lehrte sie das Brot zu küssen und sich bei der Erde, die uns trägt, zu bedanken – wird konterkariert durch das Unvermögen des Menschen, dies Gut als seine Lebensgrundlage entsprechend wertzuschätzen, es vielmehr in rasanter Manier zunehmender Zerstörung preiszugeben.

„Sterne verlöschen/alle paar Sekunden; die Zeit,/die Information braucht, um/Welten zu durchqueren ...“ Zeit, linear und chronologisch als Strukturprinzip, erweist sich bei Adnan gleichwohl als vergebliche Kategorie, „wenn wir schreiben, können wir nicht/singen, wenn wir schlafen, können wir/nicht leben//Erinnerung ist die meiste Zeit/für nichts gut: die Hotels, in denen ich wartete,/sind verschwunden ...“ Leseprobe Halt- und rastlos scheint der Mensch seiner Existenz ausgesetzt, Ambivalenz und Zerrissenheit erweisen sich als Kehrseite der menschlichen Ordnungen. Und so taumeln wir als Spezies offenbar auf eine Art Nullpunkt zu, kurz davor, uns selbst auszulöschen, – „sieh deine Brüder im Fernsehen/sterben, und rühr dich nicht ...“ Leseprobe , oder aber, wie es die Verse Adnans nahelegen mögen, unser Bewusstsein in eine andere Dimension, eine Dimension kosmischen Ausmaßes, zu transzendieren: „sie sind in einer neuen Welt,/wenn auch ohne Ausgang ...“ Leseprobe

Eben dies leistet die Lyrik Adnans, in der sich hinter vordergründigem Chaos und Zerstörungswut Liebe und Zugewandtheit zum Menschen, zur Welt, zur Natur, dem Meer und den Bergen, und zur Kunst Bahn brechen, die Zeit sich auflöst in ein ewiges Sein und kosmisches Bewusstsein, das zu erlangen uns aufgetragen sein mag. „verlass deine Kindheit nicht und ihren/Kummer. der erste Wunsch wird dich bis zum letzten/Atemzug begleiten. Straßen führen/zu Erleuchtungen, aber nie zum Frieden/des Herzens“ Leseprobe

Ebenso wenig vordergründig vermitteln sich im lyrischen Gestus Adnans Hoffnung oder Trost, als sich vielmehr in ihrer Sprache eine Leuchtkraft manifestiert, die auf etwas Größeres, uns als Spezies jedoch Innewohnendes verweist, das erst noch einzulösen wäre. Adnan erweist sich damit als große Visionärin, ihrer Zeit voraus.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Edition Nautilus, Hamburg

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Buchtipp des Monats Februar - März 2023

© erf :Schreiben ohne Geländer

Die Gefangenschaft ist das menschliche Los. Machen wir uns nichts vor.

Etel Adnan in „Paris, Paris” [Prosawerk]

Die Poesie erfasst das Unsagbare und lässt es ungesagt.

Etel Adnan in „Die See” [Gross-Poem]

 

Etel Adnan: Sturm ohne Wind. Gedichte – Prosa – Essays – Gespräche, herausgegeben von Hanna Mittelstädt und Klaudia Ruschkowski, mit einem Nachwort von Klaudia Ruschkowski, Edition Nautilus, Hamburg 2019

‚Schreiben ohne Geländer‘ möchte man dem literarischen Werk Etel Adnans, Malerin, Philosophin und Dichterin, in Anverwandlung von Hannah Arendts Diktum „Denken ohne Geländer“ bescheinigen – Arendts  Metapher für wahrhaft freies Denken. Einer inneren Freiheit, die 

sich nicht zuletzt Adnans Wurzeln in unterschiedlichen Kulturen 

verdanken mag. Geboren 1925 in Beirut († 2021, Paris), war sie das einzige Kind einer griechischen Mutter und eines syrischen Offiziers. Während in der Familie türkisch und griechisch, ansonsten arabisch gesprochen wurde, war die Sprache auf dem katholischen Gymnasium wiederum französisch. In vielem „unfreiwillig Pionierin“, wie sie von sich selbst sagt, zählte sie zu den ersten jungen Frauen in Beirut, die das Haus verließen, um zu  studieren und zu arbeiten. 1949 erlaubte ihr ein Stipendium, ein 

Philosophiestudium abzuschließen, auf dem sie 1955 an der Harvard University, Berkley, aufbaute, um danach an verschiedenen US-amerikanischen Colleges zu unterrichten. 1972 kehrte sie nach Beirut zurück, arbeitete dort als Redakteurin, bis der Bürgerkrieg 1978 sie erneut zwang, das Land zu verlassen und nach Paris zurückzukehren, um fortan zwischen Paris und Sausalito, ihrem Wohnsitz in Kalifornien, USA, zu pendeln.

In Adnans gesamtem Schaffen, durchdrungen von philosophischem Gedankengut ebenso wie vom Blick der Malerin auf die Welt, die Natur, ihrer Beschäftigung mit kosmischen Dimensionen, dem Blick der Dichterin und Literatin, scheinen sich die Grenzen der Wahrnehmung beständig zu verschieben. Nichts bei Adnan ist statisch, vielmehr in stetiger Bewegung begriffen. Und ein solcher Blick auf die sich uns bietenden komplexen Wirklichkeiten scheint umso mehr dazu angetan, an den Gitterstäben des in der Präambel konstatierten ‚menschlichen Loses der Gefangenschaft‘ zu rütteln, um die damit einhergehende Begrenztheit unserer Wahrnehmungsfähigkeit zu transzendieren. Eben dies ist das Verdienst von Adnans Werk, das unter die Oberfläche ins Herzzentrum unserer Existenz zielt, dabei um all das kreist, was uns im Innersten bewegt, wie Liebe und Schmerz, Wandel und Stille, Tod und Vergeblichkeit und Gott aufgehoben in einem Alleins, das wir erahnen, zu dem wir aber nicht ohne Weiteres Zugang haben mögen. Die Schriften der Mystiker etwa zeugen von dieser „fundamentalen Einheit Liebe“ Leseprobe, auf die sich auch Adnan beruft:

„Aber was ist die Liebe? Und was geben wir auf, wenn wir sie aufgeben? Liebe lässt sich nicht beschreiben, man muss sie leben. Wir können sie leugnen, aber wir erkennen sie, wenn sie uns ergreift. Wenn etwas in uns sich unser Ich unterwirft. Gefangener seiner selbst, das ist der Liebende. Ein seltsames Fieber. Und es muss nicht unbedingt ein menschliches Wesen sein, das die Liebe hervorruft. Ein Sonderfall. Ja.“ Leseprobe

Es ist das Verdienst der Herausgeberinnen, der Verlegerin und Gründerin der Edition Nautilus, Übersetzerin und Autorin Hanna Mittelstädt, sowie ihrer Mitstreiterin Klaudia Rutschkowski, gleichfalls Autorin und Übersetzerin, aber auch Dramaturgin und Kuratorin, uns mit Sturm ohne Wind einen veritablen Querschnitt des literarischen Schaffens ebenso wie des (auto)biografischen Hintergrunds Adnans präsentiert zu haben. Dem herausragenden Nachwort Klaudia Rutschkowskis, exzellente Kennerin des gesamten Schaffens Adnans, wiederum verdankt sich die tiefe Einsicht in deren Werk und differenzierte Erhellung der darin enthaltenen poetisch-essayistischen Textvielfalt. So bemerkenswert wie immer wieder überraschend die einheitliche Sicht auf die Dinge des Lebens. Das Politische und das Private wie Betrachtungen der Natur sind darin ebenso präsent wie das scheinbar Banale, das sich bei näherer Betrachtung genauso gut als einzigartig erweisen kann. Um dies adäquat zur Sprache zu bringen, bedient sich Adnan souverän des poetischen Verfahrens des Stream of Consciousness in mimetischer Anverwandlung des Lebensflusses selbst, mal in ruhigerem Fahrwasser, des Öfteren aber in reißerischer Manier. In all ihren Ausführungen erweist sich Adnan als leidenschaftliche Anwältin für das Leben und entschiedene Gegnerin des Kriegs, was ihren Äußerungen dazu schmerzliche Aktualität verleiht: „In der Dichte der Nacht fällt ein Engel herab, zum Zeugnis von Krieg, Verwirrung und Leid. (...) Die Brise erklimmt die Hügel, und der Krieg kehrt auf die Titelseite zurück.“ Leseprobe

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl.

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt der Edition Nautilus, Hamburg

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Sachbuchtipp des Monats Februar 2023

© Hartmut Fanger

Zu Fuß auf den Spuren Goethes

 

Willy Winkler: Herbstlicht. Eine Wanderung nach Italien

Rowohlt Verlag, Berlin 2022

 «Man streicht herum ohne zu fragen wo man ausgegangen ist und hinkommt.» Goethe am 14. Mai 1778

 

Wie schon in „Deutschland eine Winterreise“ im November 2014 ist Willy Winkler auch hier zu Fuß unterwegs. Diesmal im Herbst und nicht von Hamburg, sondern von Wittenberg aus. Einer Strecke von mehr als tausenddreihundert Kilometern quer durch Deutschland auf Luthers wie auf Goethes Spuren, über die Alpen hinweg, weiter bis nach Italien.

 

Dabei besticht die klare Sicht Winklers auf die Gegebenheiten. Da wird nichts beschönigt oder gar romantisiert. Sei es der flächendeckende Autoverkehr oder die sicht- und erfahrbare Zerstörung von Landschaft und Lebensraum. Reizvoll der  immer wieder mitunter an Sarkasmus grenzende ironische Tenor. So etwa, wenn es um den vorherrschenden Wahlkampf 2021 geht oder die Impfgegner, Querdenker, selbsterklärten Demokratiefeinde während der Pandemie.

 

So erhält der Leser ein differenziertes Bild der Welt aus der Sicht Winklers zu Fuß. Nicht zuletzt begibt sich der Autor vor allem auf die Suche nach Stille, kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass selbst im entlegensten Winkel in irgendeiner Form Lärm vorherrscht. Konterkariert wird dies wiederum im Zuge der Erschließung von Kulturräumen, wie etwa beim Besuch sakraler Bauwerke, deren kunsthistorische Besonderheiten er dem Leser sowohl mit Erkenntnisinteresse als auch angereichert mit Fachwissen kompetent nahebringt. So etwa die Kirche im Rahmen der Zisterzienserabtei Mehrerau, in der „ein naturgemäß verspielter Tabernakel von Hans Arp“ in sinnfälligem Kontrast zur spätmittelalterlichen Mystik platziert ist, vertreten durch einen Kreuzigungsaltar von Aelbert Bouts. Ebenso beschreibt er bis ins Detail genau mittelalterliche Gebäude, in der Regel in Dörfern, aber auch größeren Städten anzutreffen, wie Nürnberg oder Halle.

 

Und natürlich kann die meist unwegsame Strecke nicht ohne Umwege begangen werden. Hindernisse in Form von Einkaufszentren oder Mülldeponien. Von Autobahnen ganz zu schweigen. Da kommen alte wie neue Pilgerwege gerade recht – auch wenn mancherorts die für den Stempel im Pilgerausweis benötigten Kirchen geschlossen sind oder darin gerade eine Hochzeit gefeiert wird. Vieles hat sich gegenüber seiner ersten großen Wanderung verändert. Manches wiederum nicht. So stehen sich – ähnlich wie in „Deutschland eine Winterreise“ – Autofahrer und Fußgänger nicht immer freundlich gegenüber, fehlt es nach wie vor an Rad- und Fußwegen, sodass die Reise streckenweise nur unter Lebensgefahr zu bewältigen ist.

 

Und dann auch noch die Brücken, die es zu überqueren gilt und die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters renovierungsbedürftig sind. Abgesehen von der erheblichen Höhe, die für den Wanderer eine Herausforderung darstellt und seinen ganzen Mut erfordert. So beispielswiese die als ‚technisches Meisterwerk’ bezeichnete, 130 Jahre alte, 266 Meter lange und 85 Meter hohe ‚Bogenbrücke San Michele’. Ursprünglich nicht für Autos gedacht, ist sie heute vielbefahren. Dem Fußgänger bleibt ein schmaler Pfad in schwindelerregender Höhe entlang dem Abgrund ...

 

Nicht zuletzt bewegt sich Winkler auf dem Weg zu Fuß nach Italien auf den Spuren des deutschen Dichterfürsten Goethe. Kaum ein Ort, an dem ihm nicht Zeichen von dessen Verehrung über den Weg laufen. So etwa in den zahlreichen kleinen Ortschaften und Kirchen, gerade im Osten des Landes, wovon Winkler so manche Anekdote zu erzählen weiß. Beispielsweise auf dem Marktplatz von Wörlitz, wo Goethes gesamter Text über Natur und Kunst ‚in eine Granitplatte gemeißelt’ verewigt ist. In dieser Gegend soll er zudem in seiner Jugend sechs Wildschweine geschossen haben und später so etwas wie ein nach Winkler ‚Volksvergnügungsminister’ gewesen sein. Oder Ilmenau, dessen belebtes Ambiente Goethe als Vorbild für seinen Osterspaziergang im Faust gedient haben soll. Unweit davon, auf dem Kickelhahn, die legendäre Entstehungsgeschichte seines wohl berühmtesten Gedichtes Über allen Gipfeln ist Ruh, das er ‚eigenhändig in die Wand der Hütte oben ritzte’, heute noch vor Ort als Kopie zu bewundern. Oder natürlich in Italien, insbesondere Rom, wo er es, Willy Winkler nach, kaum aushielt und ‘gen Süden zog, um den Ausbruch des Vesuvs mitzuerleben.

 

Wie bereits in „Deutschland eine Winterreise“ finden sich auch hier heitere, teils von lakonischer Selbstironie geprägte Schilderungen einer spektakulären Wanderung, stets fußend auf einem fundierten Wissensschatz, was Kultur und Historie betrifft.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                                         Archiv

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag Berlin

Buchtipp des Monats Dezember 2022 - Januar 2023

© erf: Gott nahe sein in Gottesferne Von der Notwendigkeit, über Erlittenes zu schreiben

 

 In der Welt des funktionalen Menschen verkümmert die Erfahrung existenzieller Gefährdung, das Todes-, Krankheits- und Liebesleben verdorrt, „die Kunst, die immer dem leidenden Menschen zugehört hat und zugehört“, verliert ihr Gegenüber ...

Aus dem Nachwort, „Das Wunder des Romans“, von Lothar Müller

 

Imre Kertész, Heimweh nach dem Tod. Arbeitsbuch zur Entstehung des „Romans eines Schicksallosen“. Herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Ingrid Krüger und Pál Kelemen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022

 

Wenn wir uns hier dem Arbeitsbuch eines Imre Kertész zuwenden, tun wir das nicht zuletzt mit einem gewissen Unbehagen. Einerseits das Bestreben, im Zuge jeder Lektüre zu erforschen, wie geht das überhaupt, schreibend das Leben bewältigen, muss sich diese Frage bei Imre Kertész, der das Konzentrationslager überlebt hat, notgedrungen anders stellen. Inwieweit beuten wir hier Erfahrungen aus dem äußersten Rand menschlicher Existenz aus. Andererseits erscheinen uns gerade diese Extreme bedeutsam. Dann von eben solcher Grenzerfahrung erschließt sich, so die grundlegende Annahme, menschliche Existenz in ihrem Wesenskern, weshalb wir uns, entgegen solcher Art Bedenken, der Erkundung der Vorgehensweise Imre Kertész‘ widmen wollen. Damit ist das oben formulierte Unbehagen nicht gelöst es ist nicht zu lösen –, aber auch nicht übergangen worden, woran uns wiederum gelegen ist.

Ein Credo Imre Kerstész‘ sei sogleich ins Zentrum unserer  Betrachtungen gestellt, nämlich, dass sich zum dichterischen Erlebnis niemals das erhöht, dem wir nachrennen und das uns gefällt, sondern nur das, was wir gezwungen sind zu erleben, unser Schicksal an sich. Leseprobe

Damit einhergehend die Erkenntnis, dass diese Annäherung an den eigenen Erfahrungshorizont nur im Zuge der Erforschung des eigenen Innern zu gewinnen, im Außen nicht zu haben ist.

Imre Kertész ist dreißig und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Musik-Komödien, als er das Arbeitsbuch (1958-1962) in Angriff nimmt. Hinter ihm Jahre erfolglosen Schaffens, was ihn zu der darin vorgenommenen „nüchternen Selbstprüfung“ veranlasst, deren Ertrag das hier vorliegende Arbeitsbuch bildet. Im Original 44 dicht beschriebene Seiten.

Heraus kristallisiert sich im Zuge dessen der Entschluss, die Geschichte seiner Deportation als Zwölfjähriger zu erzählen. Packend nehmen wir als Leser am Ringen Kertész‘ nicht nur um die Wahrhaftigkeit der Erinnerung teil, sondern auch um eine literarisch angemessene Form. Dabei greift er immer wieder auf Lektüreerfahrungen  – Dostojewski, Thomas Mann, Camus    zurück, letzten Endes unabdingbare Voraussetzung jeden tiefergehenden Schreibens. Zugleich eine Frage der Verbundenheit mit uns vorausgegangenen Erfahrungswerten, an die wir, je nach dem Resonanzraum, der sich im Zuge solcher Art von Intertextualität ergibt, anknüpfen. Ist Leid doch eine grundlegend menschliche Erfahrung, bei der wir danach fragen, wie andere vor uns damit umgegangen sind, und wovon große Literaturen immer schon Zeugnis abgelegt haben. Bemerkenswert überdies die differenzierte Reflexion der Zufälligkeit, wem dabei die Opfer-, wem die Täterrolle zukommt. Ebenso wie er verstandesmäßig unhaltbare Ambivalenzen ausleuchtet, etwa das Empfinden morbider Lust im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen, aber auch die erinnerte Erfahrung von Momenten des Glücks im Lageralltag. 

Zehn Jahre arbeitet er mit akribischer Gewissenhaftigkeit daran, den erlittenen Einblick in die Abgründe menschlicher Existenz zu erkunden und in die Form eines Romans zu überführen. Allein der Schachzug, ihn aus der unschuldigen Perspektive eines Kindes zu erzählen, verleiht ihm eine so verzweifelte wie tragikomische Note. Und als das Buch endlich erscheint, muss er erleben, dass es in Ungarn zunächst abgelehnt wird und weitere dreißig Jahre dauert, bis es mit dem Erhalt des Nobelpreises endlich der Weltöffentlichkeit bekannt werden sollte.  

Ebenso vielschichtig und komplex sowie geprägt von luzider Einsicht das Fazit, das er schlussendlich zieht und das grundlegend die Fallhöhe des funktionalen Menschen samt dem ihm innewohnenden Gewaltpotenzial skizziert, dem zu entrinnen allenfalls mit List gelingt:

Mit der Akzeptanz dessen, was geschehen ist und was noch geschehen wird, vergeht die Fremdheit gegenüber dem Leben, und wir erreichen auf diese Weise die reinste Erfahrung von Freiheit, die uns die Möglichkeit eröffnet, mit reinem Bewusstsein und erhabener Verachtung weiterzuleben. Leseprobe

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                                                         Archiv

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag Hamburg 2022

© erf

Einer, der sich weigert, ohne Träume zu leben

 

Werner Herzog, Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Carl Hanser Verlag, München 2022

 Ich war wie ein Seiltänzer,

rechts und links Abgründe, aber ich ging weiter,

als sei ich auf einer breiten Straße unterwegs

und nicht auf einem dünnen Kabel

.Werner Herzog

 

Im filmischen Werk Werner Herzogs ebenso wie von den Büchern, die er geschrieben hat*, geht etwas Drastisches aus, etwas Zwingendes. Herzog, sich selbst verpflichteter Abenteurer, zugleich Visionär, der ‚einfach immer nur seine Notwendigkeiten erkannt und ihnen gegenüber Pflichtgefühle entwickelt hat, einer großen Vision zu folgen‘. Ihn interessieren die Extreme, die Ränder, was sich sowohl in seinen Filmen als auch seinen bemerkenswerten Büchern widerspiegelt. Und wie ein roter Faden zieht sich durch sein gesamtes Schaffen das Ringen darum, das Unvorstellbare zu transzendieren und in die Sphäre des Möglichen zu rücken, was nicht zuletzt die Faszination desselben ausmachen mag. Auch hat er keinerlei Risiko gescheut – zum Teil unter nahezu unvorstellbaren Umständen –, seine Ideen umzusetzen. Und nicht selten schien er dabei vom Pech verfolgt. Kraft holt sich Herzog aus dem Buch Hiob der Bibel, in einer Luther-Übersetzung von 1545, die er, neben Livius, Zweiter Punischer Krieg, beim Drehen von schwierigen Filmen mit im Gepäck hat, „immer bereit, mich allem geradewegs zu stellen, was auch immer die Arbeit und das Leben mir entgegenwerfen würden.“

 

Leicht mag man in ihm einen Fantasten sehen. Erst bei genauerem Hinschauen kommt man zu dem Schluss, das Gegenteil ist der Fall. Zwar erforscht er in seinem Werk weniger das Gängige als vielmehr Phänomene des Außerordentlichen, jedoch stets unter der Prämisse des Machbaren, einhergehend mit Besonnenheit, was ihn im Übrigen mit Reihold Messner verbindet. Besagte Machbarkeit erkundet er, bei aller Risikobereitschaft, akribisch. Nachzulesen etwa in Kapitel 22, „Ballade vom kleinen Soldaten“, über die Dreharbeiten zu Gascherbrum, der leuchtende Berg (1985), in Kooperation mit Reinhold Messner.

 

Überdies folgt sein Schaffen dem Credo „Die Welt eröffnet sich dem, der zu Fuß unterwegs ist“, was ihn wiederum mit Bruce Chatwin verbindet, der sich als Reisender tief der nomadischen Kultur verpflichtet sieht und im Beginn der Sesshaftigkeit den Ursprung all der ökologischen Krisen zu erkennen glaubt, mit denen wir heute konfrontiert sind. Als Chatwin schließlich seinem Aidsleiden erliegt, weilt Herzog, ihn auf der letzten Wegstrecke begleitend, an seinem Sterbebett.

 

Ein einzigartiges Zeugnis, das Leben zu Fuß zu meistern, nicht zuletzt aber auch von Herzogs schamanisch anmutendem Vermögen, ist in „Gang durch das Eis“ nachlesen bzw. im von Herzog selbst gesprochenen Hörbuch nachzuhören. Mit erzählerischer Wucht beschreibt er den unbedingten Willen, der sich seiner bemächtigt hat, die, wie ihm zu Ohren kam, im Sterben liegende deutsch-französische Filmhistorikerin und -kritikerin Lotte Eisner eben davon abzuhalten. „Lotte Eisner darf nicht sterben, nicht jetzt. Ich erlaube es nicht …“ beschwört er sein Vorhaben, einem so entbehrungsreichen wie überaus beschwerlichen, 21 Tage währenden Marsch von München nach Paris, wo er Mitte Dezember völlig erschöpft ankommt. Lotte Eisner gesundet daraufhin tatsächlich wie durch ein Wunder und lebt danach noch acht Jahre. Am Ende lebenssatt, bittet ihn scherzhaft die indessen 88jährige, er möge den Fluch des Weiterlebens von ihr nehmen, was er ebenso scherzhaft verspricht. Nach knapp einer Woche stirbt Lotte Eisner.

 

Was er noch dem Gehen zuschreibt, ist die Erkenntnis, dass ‚sich die Bedeutung der Welt aus dem Kleinsten, sonst nie Beachteten ableite, dies der Stoff sei, aus dem sich die Welt ganz neu ergebe‘, woraus sich wiederum der immense Erfahrungsreichtum ergibt, der sein Leben, wie in diesen Erinnerungen nun zugängig, ausmacht.

 

Schließen wir hier mit einem letzten Herzogschen Credo, gleichwohl als Fundament seines Schaffens zu erachten: „Erst die Poesie, erst die Erfindung der Dichter, kann eine tiefere Schicht, eine Art von Wahrheit sichtbar machen“, was wir unterstreichen möchten, ebenso wie wir Ihnen die durchweg packenden Lebenserinnerungen Herzogs nur ans Herz legen können.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag

 

*Eroberung des Nutzlosen (Hörbuchfassung, 2CDs), Winter und Winter, München 2013,

*Das Dämmern der Welt, Carl Hanser Verlag, München 2021, Vom Gehen im Eis. München-Paris 23.11.-14.12.1974, tacheles!/ RoofMusic, Bochum 2022 

Archiv 

Buchtipp des Monats August - September 2022

© erf:

 

Zwischen Selbstreflektion und Klage 

 

Josefine Klougart: New forest,

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022 (Kopenhagen 2016), aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.

 

Dies so opulente wie umfangreiche Werk – über 500 Seiten – aus der Feder der gefeierten dänischen Autorin verfehlt auch diesmal nicht den Sog, mit dem sie schon die Leser:innen ihres ersten, ins Deutsche übersetzten Romans, Einer von uns schläft (2019) , in den Bann zog. Dies mag sich nicht zuletzt dem Facettenreichtum ihres Wahrnehmungsspektrums verdanken. Neben ihren literarischen Ambitionen ist Klougart in der Musik ebenso zuhause wie in der Malerei, was offenbar einen immensen Reichtum in der Rezeption all dessen befördert, was der Erzähl-Stimme im wahrsten Sinne des Wortes zustößt. Überdies fungiert immer auch die Natur als Folie des Erzählens, was zusätzlich seine Magie ausmacht.

 

Im Übrigen folgt Klougart keiner Chronologie, als sie uns vielmehr nach Art des Stream of Consciouness assoziativ in Erinnerungsbilder eintauchen lässt. Ebenso wenig, wie sie durchgehend an einer Erzählperspektive festhält, so kippt die Ich-Stimme bisweilen durchaus in die Distanz wahrende dritte Person. Anlass der Erkundung des eigenen Innenraums ist eine gescheiterte Beziehung, wonach sich die Protagonistin allein mit ihrem Hund aufs Land zurückzieht. Steht zunächst das qualvoll gezeichnete Ende der Beziehung zu dem einstigen Lebensgefährten im Zentrum ihrer Selbsterforschung, münden des Weiteren ihre Gedanken zunehmend in die Welt ihrer Kindheit und Jugend. Dabei kommt die konfliktive Beziehung zu ihren Eltern ebenso zur Sprache wie das von Eifersucht geprägte Verhältnis zu der Schwester. Im Grunde wird das gesamte bisherige Leben auf den Prüfstand gestellt, Wünsche, Träume, nicht zuletzt die Reisen der Protagonistin, stehen Letztere doch für Aufbruch und Weitung des Blicks, worum es in diesem Art Prosa-Poem, getragen von Sprachrhythmus und Wortklang, vornehmlich geht. So streifen wir mit ihr ihre Heimat Jütland, die norwegischen Lofoten, stranden schließlich im griechischen Thira. Am Ende ist es der New Forest, Südengland, in dem Kindheitserinnerungen gespeichert sind.

Buchtipp des Monats August - September 2022

© erf

Schattenseite der Karrierefrau

 Eva Biringer: Unabhängig. Vom Trinken und Loslassen, Harper Collins, Hamburg 2022

 Seit Jahren geht laut der hier vorgestellten Studien der Alkoholkonsum deutlich zurück, hat angeblich bei Jugendlichen sogar einen historischen Tiefstand erreicht. Ausgenommen einer Gruppe, nämlich bestens ausgebildeter Frauen in gut bezahlten Jobs, wo er kontinuierlich steigt.

 Diese Frauen um die 30 sind Feministinnen, emanzipiert, beruflich erfolgreich mit entsprechendem Verdienst und karrierebewusst. Sie joggen, achten auf Fitness, Figur und Ernährung. Nicht selten befolgen sie Achtsamkeitskonzepte, machen Yoga, greifen zu Bio.

 Die Frage stellt sich, ob sich in einem schleichenden Prozess mit Feminismus und Alkoholkonsum ein neuer Trend etabliert hat – die Psychotherapeutin Ann Dowsett Johnston spricht gar von einer „Feminisierung der Trinkkultur“. Die Beliebtheit neuer Rosé-Weine und -Sektsorten scheint dies zu bestätigen. „Die Zukunft ist weiblich, der Wein ist pink“ zitiert Biringer die US-Autorin Holly Whitaker aus „Quit Like a Woman“, einem gleichwohl packenden, an Frauen gerichteten Plädoyer für Selbstfürsorge und Selbstverantwortung, statt Flucht in den Alkohol.

Überdies konstatiert Biringer einen deutlichen Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Anorexie, wie Magersucht oder Bulimie – viele davon Betroffene trinken außerdem. Auch wenn dies insofern wenig plausibel scheint, als Alkohol kalorienreich ist, überdies mit Kontrollverlust einhergeht, wo es bei diesen Ernährungsstörungen doch vornehmlich darum geht, unter keinen Umständen die Kontrolle über den Körper zu verlieren. Ihres Erachtens macht jedoch gerade das darin sich erweisende Paradox Sinn: Man kann nicht permanent leistungsorientiert und kontrolliert sein, braucht ein Ventil, um diesem von allen Seiten spürbaren Druck zu entkommen. Das Trinken, gesellschaftlich nicht nur legitimiert, sondern, zumindest im Rahmen manch beruflicher Zusammenkünfte, geradezu eingefordert, gehört dazu, um „in“ zu sein.

Hervor sticht die umfassende Recherche nahezu sämtlicher Fakten rund um das Thema. So kann einem der Alkoholkonsum durchaus vergehen, wenn Biringer detailliert diedamit verbundenen gesundheitlichen Risiken erhellt – von Bluthochdruck, erhöhtem Krebsrisiko, Panikattacken, Zittern, um nur einige zu nennen. Entschieden stellt sie auch den ‚moderaten Alkoholkonsum‘ in Abrede, zitiert hier Vertreter*innen des Verbandes der Ernährungswissenschaftler*innen Österreichs: “Es gibt keine gesunde Menge Alkohol“, sowie eine über Jahrzehnte angelegte Studie des US-Zentrums für Gesundheitsstatistiken, die der Auffassung widerspricht, dass etwa geringe Mengen Rotweins die Herzgesundheit förderten. Ebenso stelle sich die Frage, inwieweit die Rede vom ‚moderaten Alkoholkonsum‘ Auslegungssache sei. Abgesehen von der Tatsache, dass Frauen Alkohol sehr viel schlechter vertrügen als Männer, das gesundheitliche Risiko für sie entsprechend höher liege.

Beunruhigend überdies die Tatsache, dass ‚weltweit mehr Menschen durch Alkohol als Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Verbrechen sterben‘. Ganz zu schweigen von den immensen Kosten für das Gesundheitssystem. Nicht zuletzt wird die Alkohol-Lobby aufs Korn genommen. So etwa mit der Erwähnung Sabine Bätzing-Lichtenthälers (SPD), letzte Politikerin, die als Drogenbeauftragte u. a. versucht hatte, ein Werbeverbot für alkoholische Getränke vor 20:00 Uhr zu erwirken und sich für eine Steuererhöhung auf Alkohol einsetzte – am Beispiel von Island oder Schottland nachweislich hilfreiche Maßnahmen – jedoch kläglich scheiterte.

Ermutigend hingegen das ausführliche letzte Kapitel, bezeichnenderweise betitelt mit „Der Anfang“, wo Biringer facettenreich Wege nahebringt, die den Ausstieg aus der Sucht begleiten und den Anfang eines Lebens jenseits der Abhängigkeit markieren. Im Grunde lassen diese sich allesamt unter dem Begriff Selbstfürsorge, Selbstliebe, zusammenfassen. Welche Alternativen bieten sich, statt im Alkohol Zuflucht zu suchen. Das fängt damit an, zu tun, was man liebt. Und das ist bei Biringer nicht zuletzt das Schreiben. Daran schließt die Frage, was nährt uns, im konkreten wie im übertragenen Sinn. Was essen wir, womit beschäftigen wir uns, was erfüllt uns, schenkt uns Zufriedenheit, Freude. Zitiert werden, neben eigenen Erfahrungen, jede Menge authentischer Zeugnisse von Betroffenen, die ihre Sucht überwunden haben. Zeugnisse des Aufschwungs in die Selbstwirksamkeit.

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt Harper und Collins     Archiv

 

 Zählt im Leben denn nur, was wir bekommen? Zählt nicht unsere Sehnsucht, zählen nicht unsere Träume? ... Julia Holbe

Buchtipp: April 2022

© Hartmut Fanger:

Was zählt im Leben

Julia Holbe: »Boy meets Girl«, Roman, Penguin Verlag, München 2022

 

Nach ihrem erfolgreichen Debut „Unsere glücklichen Jahre“ ist mit „boy meets girl“ bei Penguin nun ein weiterer vielversprechender  Roman von Julia Holbe erschienen Auf über 283 Seiten erzählt die Autorin die Geschichte einer großen Sehnsucht sowie der Suche nach erfüllter Zweisamkeit, die die Protagonistin, Ich-Erzählerin und verheiratete Paartherapeutin Nora umtreibt. In Begriff, sich von ihrem untreuen Mann Paul zu trennen, sieht sie auch in einer Liaison mit ihrem ehemaligen Englischlehrer Gregory keine große Zukunft. Der einzige, den sie wirklich und von tiefstem Herzen liebt, ist ihr alter Freund Jann. Doch Letzterer steckt in einer festen Beziehung ...

Eine Misere. Zumal beide – augenscheinlich ‚nur’ gute Freunde – nicht wirklich  voneinander loskommen, sich immer wieder über den Weg laufen. Stets kommt dabei der Zufall zur Hilfe. Beliebtes Instrument, die Handlung voranzutreiben, eine Geschichte mit einer überraschenden Wendung zu versehen, um den Leser in Schach zu halten, was Julia Holbe hier meisterhaft versteht. So begegnen sich die Figuren gleich zu Beginn nach vielen Jahren rein zufällig im Supermarkt wieder. Ein andermal zusammen mit den jeweiligen Partnern auf dem Weg zum Kino, was zu einem gemeinsamen Essen und – nicht ohne Humor – zu einer Fülle an Komplikationen führt. Wie das Ganze überhaupt spannend und unterhaltsam erzählt ist. Wobei stets die Frage im Raum schwebt, inwieweit sich die Liebe der Protagonistin zu ihrem Freund Jann doch noch erfüllen mag. 

Kern- und Schlüsselsatz des Romans bildet zugleich der Titel „boy meets girl“, ‚Anfang aller zu erzählenden Geschichten‘ überhaupt, wie es gleich zu Beginn, aber auch gegen Ende des Romans heißt. So äußerte sich zumindest der berühmte US-amerikanische Filmemacher Alfred Hitchcock gegenüber seinem französischen Kollegen Francois Truffaut. Was sich schon insofern bestens mit dem Plot vermittelt, als seitens  der ausgesprochen kinoaffinen Hauptfigur über den gesamten Roman verteilt von zahlreichen Filmklassikern die Rede ist. Eine Vorliebe, die sie mit dem von ihr begehrten Jann teilt.

 

Sehr gelungen überdies die Schilderung der Aufenthalte in dem kleinen, nicht weiter benannten und vom inneren Konflikt Noras beherrschten Ort am Meer. Letztendlich wünscht sich die Protagonistin eine Beziehung, die bis ins Alter anhält, was in den Figuren ihrer Eltern ein Spiegelung erfährt. So erschreckend wie anrührend die Passagen, wo die Demenz des Vaters immer deutlicher zutage tritt, die Mutter eine Herzoperation zu überstehen hat, wodurch das Ganze an Tiefe hinzugewinnt.

Alles in allem mit der feingesponnenen Handlung und den sympathischen Charakteren ein vielversprechendes Lesevergnügen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                           Archiv

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem PENGUIN Verlag!

 

Lesungen:

Freitag 18.03. 2022; LEIPZIG, Blaues Sofa, ZDF,, Kongresshalle am Zoo, 15.40 Uhr, Mod.: Susanne Biedenkopf (ZDF)

Donnerstag 07.04.2022: BÜSINGEN, i.R. von "Erzählzeit ohne Grenzen"

 

Fr.eitag 08.04.2022: NEUNKIRCH (CH), i.R. von "Erzählzeit ohne Grenzen"

 

Donnerstag 22.06.2022: FRANKFURT/M., Literaturhaus, “Beziehungsweisen“ - Ein Abend mit Judith Kuckart, Kristine Bilkau und Julia Holbe, 19:30 Uhr

 

Freitag. 23.09.2022: WITTLICH, Casino, 20 Uhr (i. R. der Reihe “Literatur im roten Salon” der Eifel-Kulturtage)

Buchtipp: Februar 2022

© Hartmut Fanger

Rettet die Hühner

Deb Olin Unferth: „Happy Green Family“ Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Barbara Schaden

Die US-amerikanische Autorin, ehemalige Sandinista in Nicaragua und Preisträgerin zahlreicher literarischer Auszeichnungen, Deb Olin Unferth, hat einen Roman vorgelegt, der nicht nur vielen Tierschützern aus dem Herzen sprechen wird, sondern auch den Verbraucher zum Nachdenken anregt, sein Konsumverhalten – spätestens beim Frühstücksei – zu überdenken. Es geht um die riesigen Hühnerfarmen in dem US-amerikanischen Bundesstaat Iowa, wo die Tiere unter unvorstellbar grausamen Umständen eingepfercht sind. Dabei versteht es Deb Olin Unferth, den Leser mit Witz, lockeren Formulierungen und einem gekonnten Spannungsaufbau auf 288 Seiten bei der Stange zu halten und trotz detailgetreuer Schilderungen der verwahrlosten Legehennenbetriebe bis zum Schluss weiterlesen zu lassen.

Doch wie bringen die zwei Legehennenbetriebsprüferinnen die fünfzehnjährige Janey und die Freundin ihrer verhassten Mutter, Cleveland –, es fertig, einen 150 Meter langen Stall in der Größe von fast anderthalb Fußballfeldern, „so groß wie die vier größten Dinosaurier, die je auf Erden gewandelt sind“ und worin sage und schreibe von ‚hundertfünfzigtausend Legehennen vierzig Millionen Eier produziert’ werden, heimlich und illegal leerzuräumen. Es gilt ja nicht nur, die Tiere zu befreien, sondern zugleich an anderer Stelle unter hygienischen Bedingungen unterzubringen. Kein leichtes Unterfangen. Und was, wenn eines Tages vor Ort ein Feuer ausbricht …

Spannend dementsprechend die geschilderten Umstände, die frei nach Nietzsche eine „Umwertung aller Werte“ beinhalten: Eine Welt, in der Tierquäler auf der Seite des Rechtes stehen und die Schützer der Schöpfung von vornherein kriminalisiert werden. Da mutieren die Protagonisten – nach dem Vorbild des legendären Rebellen in mittelalterlichen englischen Balladen, der sich bekanntlich für Unterdrückte und sozial Benachteiligte gegen das Gesetz eingesetzt hat – zu einer Art modernem Robin Hood. 

Kenntnisreich schildert die Autorin überdies die Hühnergattung, dringt bis in deren Gehirnstruktur vor. Wie denken die Tiere, wie nehmen sie die Welt wahr, was benötigen sie, um in einer für sie zuträglichen Umgebung aufzuwachsen. Zugleich geht sie der Spezies bis zu deren Ursprung nach – ohne dabei auch nur im Ansatz den Anspruch erheben, den Leser belehren zu wollen.

Ein Roman, der, teils nah an der Realität, in seiner Fiktion jedoch stets genügend Freiraum lässt, um Phantasie freizusetzen, zugleich Lesevergnügen trotz der darin zur Sprache kommenden harten Fakten.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Klaus Wagenbach Verlag!

 

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