Sachbuchtipp des Monats Juni - Juli 2024

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Von der Uneinnehmbarkeit der Stille

 

Jeder Einzelne, der sich verändert,

verändert die Welt.Marica Bodrožić*

 

Marica Bodrožić: Die Rebellion der Liebenden. Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten. Essays. btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München 2024

 

In sechs Essays, beruhend auf Poetikvorlesungen im Herbst 2022 an der Technischen Hochschule in Köln sowie an der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden im Rahmen der „Chamisso-Poetikdozentur“, eröffnet Bodrožić (*1973), preisgekrönte Lyrikerin und Autorin zahlreicher poetischer Essays mit jugoslawischen Wurzeln, neue Denkräume und Wege, wie wir als Menschheit aus den Gewaltverhältnissen herauskommen, in die wir uns verstrickt haben.

Und auch wenn der Fokus jeweils klar benannt scheint, erweisen sich die sechs Blickwinkel ihrer Betrachtung Durchlässigkeit,  Verletzlichkeit, Gnade, Ungezähmtheit, Zugehörigkeit, Verwandllungsfähigkeit jeweils als eine zentral beleuchtete Facette, in der die übrigen jedoch gleichermaßen mitschwingen. Lesbar zugleich als Kompass durch die im Untertitel anklingende Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten.

Wenn Bodrožić im Titel von der Rebellion der Liebenden spricht, geht es ihr um eine stille Rebellion, die sich der Innenschau des Einzelnen verdankt, jenseits lautstarker Debatten im Außen um Identitäten und Meinungen. Einer Innenschau, die nur zu erlangen ist, indem wir heraustreten aus den oberflächlichen Kämpfen um Pfründe einer alten, buchstäblich überholten Denkweise, die die Matrix unserer Welt kreiert hat, deren Aporien zunehmend in unseren Polykrisen zutagetreten. Allein besagte Innenschau befähigt uns, so Bodrožić, ein tieferes Verständnis unserer ureigenen Wirklichkeit zu erlangen, die im Lärm und Getöse der Informationsflut verdeckt scheint. Dies erfordert ‚Durchlässigkeit‘, sprich die Fähigkeit, der inneren Reibung Gehör zu schenken, wenn wir uns, entgegen unserem eigenen Gespür, das uns präzise signalisiert, was zu tun wäre, dafür entscheiden, dem nicht Folge zu leisten. Etwa wenn wir, um nicht anzuecken, an unserer Komfortzone festhalten. Nicht selten werden wir in diesen Prozessen mit unserer ‚Verletzlichkeit‘ konfrontiert, mit unserer Ausgesetztheit in der Welt, unserem Leiden. Zugleich fungiert unsere Verletzlichkeit aber auch als Lehrmeisterin. Wir spüren unser aller Verbundenheit, wenn wir etwa von Menschen an Mensch oder Tier angetanem Leid erfahren, das schließlich auch uns selbst widerfahren könnte, und begreifen, dass Verletzlichkeit unserem Leben wesentlich, als feines Gewebe zu verstehen ist, in dem alles mit allem zusammenhängt. „Wir müssen freiwillig lernen, einander zu beschützen. Im Kleinen erlernen wir das Große, im einzelnen Leben erbauen wir auch die zukünftigen Möglichkeiten des Kollektiven.“ Leseprobe

Bei allen Begrenzungen, bei all dem Leid, das uns widerfahren kann, erweisen sich oft gerade die Engpässe der Existenz als Gelegenheit, genauer hinzusehen, wahrzunehmen im wortwörtlichen Sinne, tiefer zu graben und dabei Erkenntnis zu gewinnen, die uns in der Stille der Innenschau neue Horizonte erschließt und uns im Zuge dessen Momente einer Großzügigkeit und ‚Gnade‘ zuteil werden lässt, die unser Verstandesbewusstsein transzendieren mag. „Daraus entsteht gerade in unserer Zeit die rebellierende Kraft der Liebenden, die es gewagt haben, sich selbst zu sehen, sich selbst zu erleben, sich selbst zu benennen und zu würdigen ...“ Leseprobe Dazu wiederum bedarf es des Muts, sich den Anpassungszwängen und entsprechenden, zu Erstarrung neigenden Riten des Kollektivs zu entziehen, eigene Wege zu gehen, Pioniergeist zu entwickeln, um dem inneren Ruf Folge zu leisten. Ein Prozess pulsierender Lebendigkeit, die sich mitunter wild, ganz und gar ‚ungezähmt‘ Bahn brechen mag.  

Der Weg nach Innen, in die Stille, wo menschliches Sein in einem tieferen, erweiterten Sinne erfahrbar wird, öffnet zugleich wiederum die Tür nach außen, zur Welt. Wir vermögen sie jetzt vielleicht mit neuen Augen zu sehen, mit einem Gefühl für die Verbundenheit von allem was ist, von ‚Zugehörigkeit‘. So besteht unser Leben aus dem beständigen Wechsel zwischen Stille und Bewegung, zwischen Zeiten der Rast und Zeiten des Unterwegsseins, Zeiten des Rückzugs und Zeiten des Aufbruchs, die unsere ‚Fähigkeit zur Verwandlung‘ anzeigen mögen – unumgängliche Richtschnur auf dem Weg der vielleicht umfassendsten Transformation der Menschheits- und Erdgeschichte, in der wir in Begriff stehen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem btb Verlag

*Interview mit der Schriftstellerin Marica Bodrožić“ von Mike Kauschke, in: netzwerk ethik heute, Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit, 27. März 2024

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