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Im Herbst die Rückkehr nach Hamburg. Eine Trümmerstadt ... Die Mutter, der Vater lesen vor:

Geschichten aus Tausendundeine Nacht. Der magnetische Fels, an dem die Schiffe zerschellen.

Die Palastpforte, durch die der Sultan als Bettler geht. Der Bucklige. Die Gärten. Die

Rose. Das Wasser. Der Zauberer. Der Dichter. Der Handwerker.

 Autor Zwischen Handwerk & Dichtung

 

Uwe Timm: Alle meine Geister, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.

 

Eine Stadt in Trümmern, Hunger. Das waren die Ingredienzien der Nachkriegszeit. In Timms Kindheit – ein Glück! – angereichert durch das Vorlesen der Eltern von Märchen aus Tausendundeine Nacht. Ambivalente Ausgangsbasis, aber vielleicht gerade deshalb zugleich fruchtbarer Boden für die Genese eines Autors, der tief eingetaucht ist – nicht nur in den Stoff der Literaturen, sondern auch in das Handwerk des Schreibens, geschärft durch das zunächst erlernte Kürschner-Handwerk. War doch vorgesehen, dass er den Kürschner-Betrieb des Vaters übernimmt.

 

Mit fünfzehn Jahren tritt er die Lehre an. Bei „Modehaus Levermann“ am Jungfernstieg. Das stand für solide Extra-Klasse, verglichen mit dem bescheideneren „Pelze-Timm“, dem Familienunternehmen im Eppendorfer Weg. Timm selbst wäre lieber auf dem Gymnasium geblieben, wo er Freunde hatte. Aber eine Lese- und Rechtschreibschwäche veranlasst den Vater, ihn in einer Kürschner-Lehre unterzubringen. Dabei kommt ihm die dem Kürschner-Handwerk eigene Präzision nicht zuletzt beim Schreiben zugute. Denn Felle müssen sortiert und sorgfältig zusammengesetzt werden, sodass Nähte unsichtbar bleiben. Wie auch Wörter und Sätze ‚sorgfältig zusammengesetzt‘, Übergänge zwischen einzelnen Passagen geschaffen werden müssen.

Aber nicht nur insofern erweist sich die Tätigkeit im Kürschner-Betrieb als solide Vorarbeit für das Handwerk des Schreibens. Es lässt ihm im Zuge des Bearbeitens des Materials auch Raum, seinen Gedanken nachzuhängen, zu träumen. Im Übrigen sind es die markanten Persönlichkeiten, denen er dort begegnet und die einen prägenden Einfluss auf ihn haben. Diese und nicht zuletzt die Bücher, die sie ihm empfehlen, machen schließlich jene Titel gebenden ‚Geister‘ aus. Und Timm bringt sie dem Leser im wahrsten Sinne des Wortes nahe, dabei jedoch stets den gebotenen, der Diskretion geschuldeten Abstand wahrend. Darunter etwa Kürschner-Meister Kruse, der als Linker im politischen Widerstand war und dem er seine politische Sozialisation verdankt. Oder Kollege Johnny-Look, mit dem er nicht nur Lektüren und die Vorliebe des Jazz teilt, sondern auch erste Erfahrungen in der Liebe – ein in seiner funkelnden Lebendigkeit unvergessliches Porträt.

Aber auch die teils außerordentlichen Begegnungen mit den Pelzträgerinnen, etwa der verarmten Adligen aus St. Petersburg, berühren. Es ist eigentlich nichts mehr zu machen, so alt und brüchig ist der Mantel, den sie zur Reparatur bringt. Allein, sie insistiert darauf. Und Timm erbarmt sich. Nimmt kein Geld dafür. Stattdessen lässt er sich bei ihr zum Tee einladen und hat Gelegenheit, von ihrem bewegenden Schicksal zu erfahren.

 

Allein schon deshalb ist Timms „Erinnerungsbuch“ zugleich als Kulturgeschichte des Kürschner-Handwerks und dessen Niedergang im Zuge von Billigprodukten aus Osteuropa und China zu lesen. Tragik, die am Ende die verwitwete Mutter trifft. Und statt nach glänzendem Abschluss der Lehre das Abitur nachzuholen, wie Timm es vorhatte, steht er dieser zur Seite und hilft ihr, den Handwerksbetrieb abzuwickeln, tut das mit Bravour. Da ist er gerade mal 18.

 

Das Abitur wird er entsprechend später nachholen. Auf dem Braunschweig-Kolleg, wo er mit Benno Ohnesorg zusammenkommt, Freundschaft mit ihm schließt. Weg, der ihm im Anschluss daran mit dem Studium der Philosophie und Germanistik in München und Paris die Tür zu seinem eigentlichen Traum, nämlich Schriftsteller zu werden, öffnet. Als solcher wird er ein Werk zum Besten geben, in dem ‚alle seine Geister‘ in der ihnen eigenen Poesie, Lebenskraft und Lebendigkeit wieder auferstehen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Archiv

 

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Die Philosophin Eve Kosofsky Sedgwick

spricht irgendwo von der unerschöpflichen

transformativen Energie, die gedemütigte

Kinder entwickeln können. Édouard Louis

 

Zwischen ‚Grenzenloser Verzweiflung       und unbegrenzter Zuversicht‘

 

Édouar Louis: Anleitung ein anderer zu werden, Aufbau Verlag, Berlin 2022. Aus dem Französischen von Sonja Finck.

 

Alle sprechen vom Wandel. Und es hat sich indessen herumgesprochen: Der Wandel beginnt in jedem Einzelnen. Unter Intellektuellen verpönt, predigen es die Esoteriker und spirituell Infizierten seit eh und je. Maßen sich gar an, von der schöpferischen Allmacht des Einzelnen zu sprechen. Édouard Louis hat mit Esoterik nichts am Hut ebenso wenig wie mit Spiritualität. Sein Beweggrund ist in erster Linie Rache. Rache für all die Demütigungen von Kind auf, zum einen als Angehöriger einer an den Rand gedrängten, von Armut geprägten sozialen Gruppe, überdies als Schwuler in einem solchen Kontext.

 

Blickt man tiefer, erweist sich das Rachemotiv als Oberfläche, unter der eine unstillbare Sehnsucht brennt und eine Ahnung Raum greift, dass wir als Mensch über ein erhebliches Potenzial an Fähigkeiten verfügen, das zur Entfaltung drängt, was nicht selten an äußerem Widerstand scheitert. Wir erleben uns dann als Opfer, hadern damit nicht selten ein Leben lang. Doch immer mehr geben sich damit nicht zufrieden, brechen aus der nach Kant selbstverschuldeten Unmündigkeit und beginnen, die Verantwortung für ihren Lebenserfolg selbst in die Hand zu nehmen.

So auch Édouard Louis, der aus diesem inneren Brennen heraus eine machtvolle, augenscheinlich durch nichts zu bremsende Energie entwickelt, Wege aufzuspüren, sich aus der Enge erbärmlicher Verhältnisse, zu der er qua Geburt verurteilt schien, regelrecht herauszukatapultieren:

 

Vor allem aber hatte ich versucht, meiner Kindheit zu entfliehen, dem grauen Himmel Nordfrankreichs und dem Leben, zu dem die Gesellschaft meine Freunde von damals verurteilt hatte, einem Leben der Entbehrung, in dem die einzige Aussicht auf Glück die Treffen an der Bushaltestelle sind, bei denen man aus Plastikbechern Bier und Pastis trinkt, um die Realität zu vergessen. Ich träumte davon, auf der Straße erkannt zu werden, träumte davon, unsichtbar zu sein, träumte davon, zu verschwinden, träumte davon, eines Morgens als Frau aufzuwachen, träumte davon, reich zu werden, träumte davon, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Leseprobe

 

Sei es als Schüler über das Theaterspielen, sei es mit dem sicheren Instinkt für Menschen, die ihn förderten, legte er es mit entschiedener Ausdauer darauf an, Stufe für Stufe über sich selbst hinauszuwachsen. Im Zuge dessen verschafft er sich Zutritt bis in bdie höchsten Kreise der Gesellschaft, studiert schließlich an einer Elite-Universität, lernt Superreiche genauso kennen wie er, zwischenzeitlich in finanziellem Engpass, Erfahrungen macht, sich zu prostituieren. Ja, auch Abstiege, zumindest kurzfristig, wird er durchstehen. Aber am Ende hat er das Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär wahrgemacht. Nein, kein Märchen. Das amerikanische Klischee hat seinen Preis, nicht zuletzt den der Entfremdung. Entfremdung von seinen Wurzeln. Und das schmerzt. So heißt es gegen Ende der akribisch betriebenen Metamorphose:

 

Ich glaube, ich schreibe, weil ich manchmal alles bereue, weil ich manchmal bereue, mich von der Vergangenheit abgekehrt zu haben, weil ich mir manchmal nicht sicher bin, ob meine Bemühungen zu irgendetwas nutze waren. Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe. Leseprobe

 

Darunter büßt der äußerliche Erfolg seiner Mission, sich kontinuierlich von seiner Herkunft zu entfernen, an Glanz ein. Und auch der Glamour, mit prominenten Schriftstellern und Philosophen auf Du und Du zu stehen, mit Ihnen aus-, bei ihnen ein- und auszugehen, in den teuersten Etablissements zu speisen, in weltbesten Hotels zu residieren und den Globus zu bereisen, weltweit seine Bücher zu verbreiten, wird am Ende wieder infrage gestellt.

 

Nicht infrage steht hingegen, dass wo zu Beginn Rache war, am Ende mit der zugleich aus diesem Prozess gewonnen Erkenntnis die Empathie steht: dass nämlich die Differenz zwischen seinem Leben und dem seines Vaters, von dem er sich mit all der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen losgerissen hat, eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und Klassengewalt war ... Leseprobe.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                           Archiv

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Aufbau Verlag, Berlin 2022

© Hartmut Fanger

Die Welt ist groß und voller Leute, die weitermachen, selbst wenn

es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint. Holly Matthews

 

Nützliche Tipps in Krisenzeiten

Holly Matthews: Hinfallen ist auch ein Weg nach vorne, aus dem Englischen von Barbara Imgrund, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.

 

Die Britin Holly Matthews gibt in ihrem Bestseller "Hinfallen ist auch ein Weg nach vorne" so beherzt wie bodenständig Tipps in 60 Schritten, wie man sich aus existenziellen Notlagen aufrappelt und dabei nicht nur sein Leben in den Griff bekommen, sondern darüber hinaus auch wieder Glück empfinden kann.

Ein Blick genügt, um zu erkennen, dass die inzwischen preisgekrönte Autorin, Life-Coachin, NLP-Practitioner und Hypnotherapeutin weiß, wovon sie spricht. Nachdem ihr Mann überraschend früh verstarb, musste sie sich mit zwei kleinen Kindern allein durchschlagen.  Wie sie diese Zeit bewältigt hat, stellt letztendlich für sie selbst wie für ihre Leser eine Motivation dar, sich am Schopf aus der Schlinge zu ziehen. Schließlich erzählt sie in diesem Band ‚von ihrer eigenen Reise, davon, was sie unterwegs erlebt hat.’

Mit ihren Leser:innen ist sie dabei stets auf Augenhöhe, spricht sie mit dem vertrauten ‚Du’ an, davon ausgehend, dass auch ihnen in ihrem Leben schon ‚heftige Dinge passiert sind’, sie aller Wahrscheinlichkeit nach ‚schon einiges durchgemacht haben’. Warum sonst, sollten sie ‚gerade jetzt ihr Buch lesen’ ... Und es ist ihr bewusst, dass dies nicht selten mit schmerzhaften Prozessen einhergeht. Umso leidenschaftlicher verfolgt sie ihr Ziel, ‚wieder Wege hin zur Freude, Spaß am Leben‘ aufzuzeigen.  Und da hat sie jede Menge „Tipps, Tricks, Tools und Überlegungen“ parat, um den ‚gewaltigen Herausforderungen und Verlusten, etwa durch Tod und Krankheit’, zu trotzen, etwas entgegensetzen zu können.  Darüber hinaus geht es jedoch auch um die banalen Dinge des Alltags, mit denen wir uns häufig herumplagen. Matthews bietet Lebenshilfe auf allen Ebenen, wozu zum Beispiel „Meditation für Einsteiger“, die Anwendung von „Affirmationen“ oder so genannte „Dankbarkeitsspaziergänge“ gehören.

Von neuesten Erkenntnissen ausgehend, wie unser Gehirn arbeitet, zeigt Matthews auf, wie man wieder ‚Leben in die Bude’,  ‚was einen durch harte Zeiten bringt’,  wie man sich ‚mit der Angst anfreundet’ und  ‚durchhalten lernt’, dementsprechend eben ‚nicht aufgibt’. Und es sind gerade die kleinen Alltagsrituale, die uns das Leben verschönern und mehr Leichtigkeit hineinbringen können. Sei es beim Start in den Tag mit einer kleinen Achtsamkeitsübung, sei es vor dem Schlafengehen, wo man sich noch einmal vergegenwärtigt, was tagsüber gut gelaufen ist.  Oder wie man bei aller Liebe ganz einfach auch mal ‚Nein’ sagen kann.

Letztlich macht die Autorin Mut, das Leben in all seiner Vielfalt wieder anzupacken, sich ‚große, fette Ziele zu setzen, die ‚Siege zu feiern’ und sich ‚von ganzem Herzen zu lieben’. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt-Verlag

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