Buchtipp des Monats Januar 2024

 © Hartmut Fanger

Amerika, Österreich und der rest der Welt – Eín nicht ganz wertfreier Blick

Stefanie Sargnagel: Iowa. Ein Ausflug nach Amerika, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024

In ihrem neusten Werk wirft die gebürtige Wienerin Stefanie Sargnagel in ihrer Funktion als Autorin und beauftragte Lehrerin für Kreatives Schreiben an der Uni in Iowa einen ungeschminkten Blick auf ein Stück Amerika, das uns das Fürchten lehrt. So etwa, wenn die Ich-Erzählerin Stefanie S. von Waffenbesitz, Obdachlosigkeit, der omnipräsenten Vorherrschaft des Autos und der dörflichen Enge von Grinnell in Iowa berichtet und dem Gefühl, ‚zwischen Beton und Wolken langsam zerquetscht zu werden’. Ganz zu schweigen von der schlechten Esskultur in den USA, gefolgt von Übergewichtigkeit so vieler im Lande sowie Alkoholismus.

Doch damit nicht genug. Einst Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘, scheint diese Verheißung indessen der Vergangenheit anzugehören. Sei es, wenn wir mit Stefanie S. in die ‚halbleeren Schaufenster’ der Mainstreet des Ortes blicken oder uns damit konfrontiert sehen, wie im Rahmen einer rechtsgerichteten Cancel Culture Bücher von Margaret Atwood oder der Nobelpreisträgerin Toni Morrison aus Bibliotheken reaktionärer Bundesstaaten verbannt werden. Bemerkenswert in diesem Kontext, dass Cancel Culture in Deutschland im Gegensatz zu den USA politisch eher von links kommt.

Dabei spart Sargnagel nicht mit Informationen aus ihrer Heimat und schildert prekäre Verhältnisse insbesondere von Künstlern und Künstlerinnen Ü60 in Deutschland und Österreich. So etwa ihre Begleiterin Christiane, die davon als erfolgreiche Sängerin im wahrsten Sinne des Wortes ein Lied singen kann und vom Alter her deren Mutter sein könnte. Die wahre Mutter von Stefanie S. lässt es sich allerdings nicht nehmen, diese in Grinnell zu besuchen – nachdem Christiane abgereist ist. Klar, dass Amerika von nun an über die Grenzen Iowas hinaus besichtigt werden will.

Erschütternd im Zuge dessen die Schilderung der Zustände in den Metropolen, die Stefanie S. mit ihrer Mutter bereist. So, wenn sich die „Glamour und Weltgewandtheit versprechende Stadt Los Angeles als eine Riesenobdachlosensiedlung“ Leseprobe entpuppt,  San Francisco trotz des nahe gelegenen Silicon Valley und einem Bruttoinlandsprodukt von 3,6 Billiarden an der schieren Masse Obdachloser zu ersticken droht. Auf der anderen Seite des Kontinents wiederum heißt es von Chicago, dass dort ‚die Wolkenkratzer eher beruhigend wie das Meer’ seien. Zumindest wenn man vom offenbar selbstverständlichen Besitz von Waffen in Chicago absieht. So sei etwa keine der Freundinnen der Exildeutschen Simone – Stefanie S. kennt sie aus dem Internet und ist mit ihr in einem Underground Club verabredet   nicht schon einmal in eine Schießerei geraten.

Gewürzt bei allem Ernst der Lage mit Witz, Ironie und Humor, lesen sich die Ausführungen leicht und locker und unterhaltsam, ohne dass dies den hohen Informationswert schmälerte. Reizvoll überdies der spielerische Einsatz von Fußnoten, die dem Ganzen weitere Erkenntnisfacetten hinzufügen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg                                                                                                                       Archiv

Buchtipp des Monats Oktober-November 2023

 

© erf

Welt im Wandel –  Aufbruch zur Transzendenz

Es gibt einen Ort in uns. Wir erschaffen ihn gemeinsam,

durch unsere Offenheit und durch unseren Hustle,

durch unseren Humor und durchdie wahnwitzigen

und wunderbaren Wiederholungen. Joshua Groß

 

Joshua Groß: Prana Extrem, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022

In mannigfaltiger Spiegelung schreibt sich der rasante Wandel, in dem wir als Individuen dahintreiben, in Joshua Groß‘ Roman Prana Extrem ein. Zugleich eine hellsichtige Analyse des Zeitgeists. Geprägt einerseits von dystopischen Untergangsszenarien, konterkariert wiederum von der unverbrüchlich den Subjekten innewohnenden Sehnsucht nach Transzendenz. Und sei es im Spitzensport. So vertreten durch die Figur des 16jährigen Michael Stiening, den der Ich-Erzähler Joshua in Innsbruck, Mekka des Wintersports, kennenlernt. Zur Weltklasse im Skispringen antretend, darin aufgehend, erlebt Michael im Zuge dessen mehr als nur den Triumph einer sportlichen Spitzenleistung.

 

[E]r beamte sich vom Tisch weg und schwebte mit einer solchen außerirdischen Eleganz den Hang hinab, dass das Publikum fassungslos verstummte – bewegungslos lag er in der Luft, bestärkt durch minimalen, dickflüssigen Aufwind, ganz gelassen reizte er seinen Flug maximal aus, bis es fast gefährlich wurde, ließ sich schließlich aber in die Senke treiben und landete mit einer todsicheren Zartheit auf den tiefgrünen Matten. Kurz war subatomar eine sakrale Stille zu verspüren. Leseprobe

 

Die abgeschiedene Ferienwohnung Michaels und seiner Schwester in den Alpen, inmitten der Natur, und der heiße Sommer bieten die Kulisse für die bunt zusammengewürfelte Figurenkonstellation – Ich-Erzähler Joshua und Freundin Lisa, Skispringer Michael mit Schwester Johanna, die ihn coacht, zu denen unerwartet die fünfjährige Tilde, eine Verwandte der Beiden, stößt, überdies Joshuas eigenwillige Oma. Unter der Oberfläche der lapidaren Handlung werden grundlegende Fragen menschlichen Miteinanders in einer Lebenswirklichkeit verhandelt, die von unzumutbaren Zurichtungen des Individuums geprägt zu sein schein. Dies manifestiert sich etwa im Milieu des Reihenhauses der Großeltern, dem der Ich-Erzähler „Erstickungsgefahr unter der pseudogutbürgerlichenemotionalverwahrlosten Tristesse“ Leseprobe bescheini gt. Fassungslos registriert er die

 

... Existenzen zweier Menschen ..., die gegenseitig in sich andauernd die eigene Abgefucktheit gespiegelt sehen ... und die unfähig sind, seit Jahrzehnten eben, auch nur kurz darüber nachzudenken, ob es Veränderungen geben könnte, die es ermöglichen würden, sich nicht nur auf erschreckende Weise aneinander abzunutzen, sondern so mit dem eigenen Leben und Sterben umzugehen, dass es innerhalb der individuellen Beschränktheiten als wertvoll empfunden wird. Leseprobe

 

Wie wollen wir leben, was hinter uns lassen. Wie geht ein Miteinander, getragen von Verbundenheit, Liebe. Deutlich wird im Zuge der Lektüre der Irrwitz, in dem der Mensch des Anthropozäns angehalten ist, sich irgendwie zurechtzufinden. Was die Figuren jedoch umso nachdrücklicher dazu bringt, das vorgefundene Außen mit einem Gegenentwurf verbundenen Miteinanders zu beantworten. Die Ingredienzien hierbei sind der achtsame Umgang untereinander, Zugewandtheit und nicht zuletzt Humor.

 

Die Sprache, der Groß sich hier bedient, lässt, entsprechend der immer auch verzweifelt anmutenden Suche nach Sinn in der Abwärtsspirale, allzu geschliffen glatte Formulierungen vermissen, kommt – zurecht – teils sperrig, dann wieder flapsig im Jugendjargon daher, lässt aufhorchen, nimmt den Leser mit.

 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Verlag Matthes & Seitz, Berlin

                                                                                                                            Archiv

Buchtipp des Monats September 2023

© erf

Nachrichten aus dem Inneren von Bäumen und Steinen

Was geschieht, wenn man ein Gedicht pflanzt? 

Cees Nooteboom: In den Bäumen blühen Steine. Die erdachte Welt von Giuseppe Penone, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.

Diesen Juli hat Cees Nooteboom seinen 90. Geburtstag gefeiert. Mit seinem jüngsten Werk „In den Bäumen blühen Steine“ hat er seinen Lesern sowie sich selbst ein Geburtstagsgeschenk par excellence gemacht. Wer den Kosmos dieses poetischen inneren Dialogs des Dichters Cees Nooteboom mit dem 76jährigen italienischen Künstler, Skulpteur, Bildhauer und Landartist Giuseppe Penone betritt, wird Zeuge einer unsichtbaren Wahrheit in einer Welt beseelter Entitäten, in der Bäume, Flüsse und Steine ihre ganz eigene Wirklichkeit entfalten. Eine Wirklichkeit, gespeist von erweiterter Wahrnehmung, die sich der Stille verdankt und erlaubt, einzutauchen in die tiefe Verbundenheit des Menschen mit der Natur, die uns die Mechanik, Unerbittlichkeit und Rasanz digitaler Prozesse, die gegenwärtig den Takt vorgeben, zu verwehren scheinen.

 

Anlass der Auseinandersetzung war eine Retrospektive im Museum Voorlinden in Wassenaar bei Den Haag des Werks von Giuseppe Penone (Oktober 2022-Januar 2023). In Vorbereitung derselben erhielt Nooteboom die Nachricht von der Direktorin des Museums, dass Penone sich von dem dichterischen Werk Nootebooms hätte inspirieren lassen. Beide Künstler hatten sich einst flüchtig kennengelernt, sich dann aber aus den Augen verloren. In einem handgeschriebenen Brief auf Italienisch vom 8. Juli 2022 teilt Penone Nooteboom mit, dass er für den Ausstellungs-Katalog einige seiner Gedichte ausgesucht habe.

 

Dies wiederum war für Nooteboom der Beginn einer tiefgreifenden Recherche nach gemeinsamen Wurzeln der beiden Künstler und Großmeister ihres Fachs. Gelegenheit dazu verschaffte ihm kurz nach Eintreffen besagten Briefs eine umfangreiche Sendung aus Turin voll mit kleinen Essaybändchen über das Werk Penones, die ihn in dessen Sommer-Haus auf Menorca erreichte.

 

Bewegt von der Tatsache, dass Jahre, nachdem Penone seine Gedichte rezipiert hatte, diese in dessen Skulpturen und Natur-Artefacte eingeflossen waren, begibt sich Nooteboom auf Spurensuche und damit zugleich auf eine Reise ins Innere, inspiriert allein von besagten Essaybändchen mit etlichen Aufnahmen von Kunstwerken Penones. Dessen Werk aus einfachsten Materialen – Bäume, Steine, Metall –, der Arte Povera zugeschrieben, korrespondiert mit der Poesie Nootebooms nicht zuletzt im Hinblick auf ihrer beider Naturverbundenheit.

 

Letztere ist bei Penone insofern stark ausgeprägt, als sein Großvater Bauer, Penone auch auf dem Land aufgewachsen war. Die Verbundenheit des Bildhauers und Skulpteurs mit der Erde, dem Ursprung der Materie, diese unmittelbare Berührung dessen sinnlicher Kunst, die sich ertasten lässt, löst eine gewisse Eifersucht aus in Nooteboom. Als Künstler, Dichter, der mit Worten jongliert, die, weniger greifbar, mehr der Sphäre des Geistes und damit der des Denkens zugeschrieben sind, vermisst er besagte Unmittelbarkeit der Berührung. Dies wiederum kompensiert er in der Verbundenheit mit der Natur im Garten seines Sommerhauses, wo er den Leser etwa durch seine Kakteensammlung führt, oder ihm die Palmen, die er selbst gepflanzt hat, nahebringt. Aber auch Steine hat er gesammelt. Mitbringsel aus zahlreichen Reisen rund um den Globus. Mit ihnen sucht er das Zwiegespräch, überlegt, ob sie manchmal an ihn dächten, und macht uns glauben, auch Steine seien Wesenheiten, in denen Geschichte und Geschichten schlummern, die sich dem erschließen mögen, der sich ihnen öffnet.

 

Zu diesen wiederum zählt Penone, dessen gesamte Kunst als Art Zwiegespräch mit der Seele von Bäumen, Steinen und Metall interpretiert werden kann, in das Wind und Fluss als Skulpteure eingebunden sind. Eben dies erweist sich dann auch als verbindendes Element zwischen dem Dichter Nooteboom und dem Bildhauer, Skulpteur, aber vor allem Landartist Penone.

 

Die Faszination dieses Textes Nootebooms liegt im Zauber seiner geistigen Frische. Dies wiederum mag sich seiner Offenheit und der Weisheit verdanken, sich als 90jähriger weniger aufs Altenteil zu besinnen, als vielmehr als „Entdeckungsreisender“ durch das Werk Penones zu begeben. Mit unverbrüchlicher Neugier und einem tiefen Wissen um die Unsagbarkeit von Wahrheiten, die sich dem Verstandesbewusstsein entziehen. „Liebe allein in den Dingen, aus Wolken und Winden geschnitzt.“*

*Cees Nooteboom in dem Gedicht BASHŌ I

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                    Archiv

 

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Suhrkamp Verlag, Berlin 2023

 

Buchtipp des Monats Mai/Juni 2023 nicht nur für Junge Leser

 

© Hartmut Fanger:

Der Traum vom Fliegen oder was es bedeutet, ein Vogel zu sein ...

Tom Birkhead (Text), Catherine Rayner (Illustration): „Aus der Vogelperspektive – Von rodelnden Raben, plappernden Papageien und tricksenden Rothühnern“ aus dem Englischen von Rita Gravert, Hanser Verlag, München 2023

Wie und wo leben Vögel. Und was heißt es überhaupt, fliegen zu können. Diesen Fragen sind der renommierte Ornithologe Tim Birkhead und die preisgekrönte Illustratorin Catherine Rayner in einem so hinreißend schönen wie farbigen und äußerst informativen zugleich leicht verständlichen Band nachgegangen, der sich durch bestechende Naturverbundenheit und vor allem dem liebevollen Blick auf diese Tierart auszeichnet. Rund um die Welt. Von Nordeuropa bis Neuseeland, von Alaska bis zur Antarktis und Südpolmeer, von Asien bis nach Großbritannien.

Dabei werden nicht nur die außergewöhnlichen Leistungen der Vögel  transparent gemacht. Wie zum Beispiel das kleine Rotkehlchen, das aus England im nahenden Winter teils um den halben Globus nach Afrika fliegt, um dort Nahrung zu finden, und das – einem geheimen Kompass zufolge –  im darauffolgenden Frühjahr wieder zum Herkunftsort zurückfindet.  Oder Vögel, die über ein außerordentliches Sehvermögen verfügen und dabei auch noch unglaublich schnell sein können, wie der Wanderfalke. Von dem Raben, der nicht nur ‚ungeheuer intelligent’, sondern auch noch verspielt ist, ganz zu schweigen.

Nehmen wir darüberhinaus am Tanz der Gelbhosenpipra-Männchen tief im Regenwald Süd- und Zentralamerikas teil oder an einer „Chorprobe“ der Flötenkrähenstare in Australien, erleben wir, wenn der „Honiganzeiger“ ein Nest von Wildbienen Afrikas ausmacht oder der in Nordamerika und Europa aufzufindende Specht sich einen Baum auswählt und aufmerksam macht, dass sich hier alle fern halten sollen, indem er ‚energisch auf Holz klopft’ und, und, und.

Das Buch ist ein großer Spaß nicht nur zum Schmökern, Blättern, Entdecken, Erfreuen, sondern auch zum Lernen. Wir können für diese Lektüre nur dankbar sein.                                                                                              Archiv

Unser  Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag in München

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