Buchtipp des Monats März - April 2021 

  © Hartmut Fanger

Menschenaffen – unsere Brüder

T.C. Boyle. "Sprich mit mir"

Roman, Hanser Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren“

 

Das Ganze spielt in einer Zeit des großen Linguisten-Streits über die Frage, inwieweit Affen sprechen lernen, sich zumindest in Gebärdensprache ausdrücken können. Laut dem bekannten, ganz realen Linguisten Chomsky war das Anfang der Siebziger der Forschung ein Dorn im Auge und wurde schlichtweg negiert – und dies, obwohl auf dem Gebiet schon einige Erfolge zu verzeichnen waren. Zumindest weisen die Versuchsreihen im Hinblick auf die Evolution verbaler Kommunikation stark darauf hin. So auch für die Protagonisten des Romans, Professor Guy Schermerhorn und seine Assistentin Aimiee. Der von ihnen betreute Schimpanse Sam erschien ihnen zu allem hin menschlich, galt gar als Familienmitglied. Finanziert wurde ihre Forschungsarbeit von Fördermitteln. Bis Big Boss Moncrieff in Erscheinung tritt, dem Sam gehört und der ihn wieder in Besitz nimmt, um ihn in einen Käfig zu sperren. Von nun an ist das Leben Sams ein völlig anderes, von Angst und Schmerz und ihn umgebender Dunkelheit geprägt. Bis wiederum Aimee ihn auf abenteuerliche Weise befreit. Doch dies Glück ist nicht von Dauer ... 

Dabei wartet Boyle mit jeder Menge weiterer spektakulärer szenischer Darstelllungen auf. Sei es, wenn von der Teilnahme Sams an der Fernsehrateshow „Sag die Wahrheit“  oder von dessen Taufe die Rede ist. Frappierend nicht zuletzt der Kontrast zwischen einem liebevollen, empathischen Umgang mit dem Tier und der Tatsache, dass Tiere juristisch bis heute als Sache definiert werden. 

Wir erleben einerseits den Boyle, den wir schon immer gern gelesen haben, mit witzigen Einfällen und farbigen Schilderungen, exzellenter Recherche und dem unverkennbar lockeren Schreibstil. Andererseits bringt er diesmal wirklich grausame Wahrheiten zur Sprache, indem er ungeschminkt aufzeigt, wie es Tieren ergeht, die zu Forschungszwecken missbraucht werden. Nichtsdestotrotz ein Muss für alle Boyle-Fans. Stehen am Ende – auch wenn dies traurig anmutet – doch Empathie gegenüber der Tierwelt, Umwelt-Engagement und Lust am Text im VordergrundNachhaltig beeindruckend Boyles Versuch, sich in das Denken eines Schimpansen hineinzuversetzen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Hanser Verlag!

 

  ©  Erna R. Fanger: 

„Körrt Switters“ – Avantgarde-Künstler und Migrant

 

»Unser Leben besteht nicht primär aus Daten und Fakten, sondern aus den Geschichten, die wir uns und anderen darüber erzählen. Schwitters´ äußeres

 Leben ist für mich das Gerüst für eine innere Geschichte.«

Ulrike Draesne

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Ulrike Draesner: „Schwitters",Penguin Verlag, München 2020 

Draesners „Schwitters“ – Art Künstlerroman von 471 Seiten – ist ein durchweg mimetisches literarisches Unterfangen. Und zwar im so konkreten wie komplexen Sinne von Mimesis als „sich ähnlich machen“, „zur Darstellung bringen“, „ausdrücken“, „vorahnen“*. „Schwitters“ beruht zweifellos auf historischen Fakten. Draesner greift sie reichlich auf und bestens recherchiert. Doch weit darüber hinaus kommt ihre Annäherung an die Figur dieses Ausnahmekünstlers einer Anverwandlung seiner Person sowie dessen dadaistischer Verfahren gleich. Deren Merkmal wiederum ist die Dekonstruktion bestehender Wirklichkeit und damit Revolte gegen konventionelle Kunst und Politik schlechthin. Nicht zuletzt Antwort auf die Zerstörung von Sinn und Werten im Zuge des Ersten Weltkriegs. So gesehen, ist dies opulente Werk über den von den Nazis als „entartet“ abgestempelten und verfolgten Avantgarde-Künstler ein genialer Wurf. Befeuert vom lebendigen Erkenntnisinteresse Draesners an der Figur Schwitters, der heute – nahezu vergessen – als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler der Avantgarde des 20. Jahrhunderts gilt. Verbindet man ihn hierzulande meist allenfalls mit dem Dada-Gedicht par excellence „Anna Blume“, hat sich Draesner eher dem bildenden Künstler Schwitters gewidmet, als der er im englischen Exil offenbar deutlich stärker wahrgenommen wurde als in Deutschland. Dabei nähert sich Draesner, aus verschiedenen Perspektiven erzählend und mit einem gehörigen Maaß an Empathie, nicht nur Schwitters, sondern auch dessen Frau Helma, die bis zu ihrem Tod dafür sorgte, dass sein Werk dem Zugriff der Gestapo entging. Später erfahren wir die hier erzählte Geschichte aus der Sicht der Londoner Geliebten, Edith »Wantee« Thomas, die sich um den von Flucht und Lager gesundheitlich schwer angeschlagenen und geschwächten „Körrt“ rührend kümmerte, woraus eine tiefe Liebe erwuchs, die ihm noch einmal so etwas wie ‚den Zauber des Anfangs’ beschert hat. 

Draesners fantasievolle, aus der genauen Kenntnis des Werks Schwitters’ gespeiste und empathische Anverwandlung setzt der Verlag wiederum in dem ästhetisch bemerkenswerten Buchumschlag um: Doppelt gefaltet, innen mit Bild- und Textteil, versammelt er linkerseits collageartig die Lebensstationen Schwitters’ unter dem Motto „Kurt pfeift das gute Leben“, rechterseits „Kurt pfeift die andere Seite des Lebens“. Wie sich Draesners Anverwandlung der Figur Schwitters im Text selbst ausnimmt, mag nachstehende Leseprobe verdeutlichen:

„Er hatte seine Gedichtbände vermerzt, jedes Mal zu Beginn seines Auftritts ein Führerbild von der Wand genommen, es an den Rand der Bühne gestellt und das Publikum aufgefordert, es anzuspucken. Das akzeptierte er als Applaus! Er erfand einen braunen Hasen, der um die Ecke sprang, die es nicht gab, erzählte vom stärksten Mann der Welt, der Frauen über das Radio schwängerte, so dass jede Dame, ‚deutsche Präzisionsarbeit’, nach neun Monaten einen Zwerg gebar, und lernte seit einem Jahr seine Gedichte auswendig.“

Bei besagtem „Vermerzen“ handelt es sich um eine Wortschöpfung, die sich von Schwitters‘ Merzbau  ableitet. Eine höhlenartig über mehrere Stockwerke angelegte, mit allerhand collageartigen Objekten und Skurrilitäten versehene, begehbare Skulptur im Haus seiner Eltern in Hannover, die 1943 einem Bombenangriff zum Opfer fiel. Wobei Schwitters das Wort Merz einem Zeitungsausschnitt mit einer Anzeige der „Kommerz- und Privatbank“, verdankt, indem er die Silbe „merz“ herausschnitt. Auch in seinem norwegischen Exil entstand ein Merzbau, der aber im Zuge eines Brands zerstört wurde. Die im englischen Exil entstandene „Merz Barn“ wiederum blieb unvollendet, als er 1948 starb, bestand nur aus einer Wand. Dass Letztere 1965 auf Initiative Richard Hamiltons abgetragen wurde, um in der Hatton-Gallery der University of Newcastle Einzug zu halten und so noch einmal zu Ehren zu kommen, bildet den glücklichen Schluss dieses Buches.

In drei Teilen erzählt – „Das deutsche Leben“, „Das englische Leben“, „Das Nachleben“ –, werden darin, nicht unbedingt immer der Chronologie folgend, drei Themenschwerpunkte kunstvoll miteinander verwoben: Das Thema Flucht und Vertreibung, die Kunst des 20. Jahrhunderts und, last but not least, das Thema Sprache. Themenschwerpunkte, die Draesner umso mehr mit dem Gegenstand ihres Interesses insofern verbinden, als sie wesentlich ihre eigene Biografie geprägt haben. So entstammt Draesner selbst einer aus Schlesien geflohenen Familie, literarisch in „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (2014) verarbeitet, und als Schriftstellerin, zugleich „Poeta Docta“, ist sie natürlich auch von der Kunst des 20. Jahrhunderts affiziert, arbeitet bisweilen in intermedialen Projekten auch mit bildenden Künstlern zusammen. Desgleichen ist sie im Medium Sprache doppelt verankert. Lebte sie doch immer wieder in England, switcht zwischen Deutsch und Englisch hin und her und hat „Schwitters“ sogar erst auf Englisch geschrieben. Zweisprachigkeit prägte auch die letzten Lebensjahre Schwitters’, erst in London,später in Ambleside im Lake District. Die hier erhellten biografischen Kreuzpunkte scheinen wiederum geradezu prädestiniert, das eingangs diesem kongenialen Werk zugrunde gelegte mimetische Prinzip zu bestätigen. Dem Leser wiederum bietet es einen großartigen Einblick in das Leben eines so vielseitigen wie unterschätzten Künstlers, der neben seiner sprichwörtlichen Merzkunst auch als bildender Künstler ebenso wie als Schriftsteller und Lyriker in Erscheinung trat. Selbst Theatertücke und das Libretto zu einer Oper hat er verfasst. Eine schillernde Figur, der Draesner hiermit ein wahrlich gebührendes Denkmal gesetzt hat.

Für wissbegierge Sprachbesessene dieLektüre für zwischen den Jahren!

* Christoph Wulf: Mimesis, in „Einleitung“, ewi-psy.fu-Berlin.de

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Penguin Verlag.

 

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