Buchtipp des Monats Dezember 2024

© Hartmut Fanger

Von der Sehnsucht, weit weg, gar im All

 

 Finsternis. Hier bleibe ich. Halte die Luft an. Nicht halbherzig, sondern ernst, auch um einen Stern fehlt Sauerstoff, hier muss ich leben lernen.

Barbara Zeman, Beteigeuze

 

Barbara Zeman: Beteigeuze, Deutscher Taschenbuch Verlag DTV, München 2024

 

Sehnsucht, weit weg zu sein. Am liebsten fernab im Sternbild des Orion, wozu der wenig bekannte Stern von gigantischer Größe mit dem seltsamen Namen „Beteigeuze“ gehört. Auf 300 Seiten kommt dieser titelgebend zum Tragen. Wie überhaupt das Weltall für die vierzigjährige, von Depressionen geplagte Protagonistin Theresa Neges zu einer Art Obsession wird. Neges wiederum bedeutet soviel wie ‚Du solltest Nein sagen‘. Aus der Nervenanstalt entflohen, avanciert ihre Wohnung zu einer Raumfahrtzentrale à la ESA oder NASA, die Decke versehen mit leuchtenden Sternen. Hier kann sie sich „Beteigeuze“ nahe fühlten. Letzten Endes fungiert jener ‚nur im Herbst sichtbare, rötlich leuchtende Riesenstern, dieses von Weltraumschrott und Staubwolken umgebene Gebilde‘ als Art Spiegelfigur. „Halb so kühl wie die Sonne. Zehntausendmal heller als sie“ Leseprobe, empfindet Theresa sich selbst als ebenso strahlend wie Beteigeuze. „Gleich wie mein Stern strahle ich hell, und manchmal strahle ich finster" Leseprobe – so Theresa.

Weit entfernt von den üblichen alltäglichen Pflichten und Obliegenheiten scheint Theresa auch sonst zu sein. Ohne Beruf und ohne Geld am gesellschaftlichen Rand. Sei es am Strand in Venedig, in Wien auf dem Rummelplatz, wo sie, auf einem Karussell von Schwindel erfasst, eine Fantasiereise ins All antritt. Bewusst will sie ohne Geld eine Birne kaufen und übt im Hallenbad nach Vorbild eines verstorbenen Tauchers, die Luft anzuhalten ... Theresa, so komisch wie tragisch gezeichnet, immer nur bedingt dazugehörig, dabei stets zwischen Himmel und Erde schwebend, manisch-depressiv, was auch für ihre Beziehung Josef zutrifft, dessen Liebe sie sich nie ganz sicher sein kann.     

 

Keine Plot-Geschichte, vielmehr experimentell erzählt, lebt Beteigeuze nicht zuletzt von der gekonnt eingesetzten poetischen Bildersprache, von genial konstruierten Satzkombinationen sowie den kunstvoll gebauten authentischen Dialogen – kurz von seiner Sprachschönheit: „In Wien ist unsre Wohnung dunkelblau, am Meer ist sie orange. Wir haben das schlechte Wetter verpasst, aber die Reste des Regens sind noch nicht aus den Zimmern verschwunden. Ein Vorhang bewegt sich langsam.“ Leseprobe Ein Roman von der Leuchtkraft des Sterns, von dem er erzählt, so hell wie „Beteigeuze“.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dtv München                Archiv

Buchtipp des Monats August/September 2024

 

© erf

  Der Mann aus der Stadt. Der war auch nicht glücklich.In seinen Augen lag etwas so Finsteres, das mit ihren tiefsten Abgründen korrespondierte ...

Roisin Maguire

 Roisin Maguire: Mitternachtsschwimmer.

DuMont Buchverlag, Köln 2024.

Aus dem Englischen von Andrea O‘ Brian.

 

"Mitternachtsschwimmer", Debut der in Nordirland lebenden Roisin Maguire, hat offenbar ins Herz der LeserInnen getroffen. Zugleich ein Corona-Roman, spielt die hier erzählte Geschichte von einem traumatisierten Städter aus Belfast, Evan, der in einem idyllisch anmutenden Dorf an Irlands Küste gedenkt, eine Auszeit zu nehmen, doch zu Beginn des Ausbruchs der Pandemie. Eine Bleibe vermietet ihm die sich rau und spröde gebende Grace. Alleinlebend mit Hund, ganzjährig schwimmend, bestreitet sie ihren Lebensunterhalt u. a. damit, Zimmer zu vermieten und Quilts herzustellen, worin sie im Zuge der Erzählung unverhofft immensen Erfolg erzielt. Doch wie so oft verbirgt sich hinter ihrer rauen Schale eine tief verwundete Seele, was die beiden wiederum vereint.

Eine nicht unwesentliche Rolle kommt dabei dem Schauplatz zu, sprich das Meer und die Natur rings um das Dorf Ballybrady und deren heilsame Wirkkraft, die ein Gegengewicht zu den konfliktiv gezeichneten Charakteren bilden. Letztere wiederum erweisen sich vielfach als überaus farbige, eigenwillige, mit warmherzigem Humor gezeichnete Figuren, was den Reiz dieses Romans überdies ausmacht. So etwa Becky, die nicht nur einen kleinen Dorfladen betreibt, sondern, dem Buddhismus nahestehend, für ihre Kunden immer ein Wort weisen Trostes auf den Lippen hat. Und da ist Abbie, Nichte, zugleich Vertraute von Grace, die während des Lockdowns nicht nur vor ihren ungeliebten Kommilitonen zu ihrer Tante aufs Land flüchtet, sondern auch, um ihrer übergriffigen verwitweten Mutter, mit der es nur Zoff gibt, zu entkommen. Nicht zu vergessen, all die Gestrandeten rund um das Pub, dem Alkohol frönend, sich aber im Zweifelsfall als verlässliche Kumpels erweisend.

 

Und während Evan, nach dem Tod seiner kleinen Tochter Jessie verzweifelt und verstört, darum ringt, wieder ins Leben zurückzufinden, reißt diese exponierte psychische Konstellation auch bei Grace, die überdies mit dem Älterwerden hadert, alte Wunden auf. Der Lockdown wiederum sorgt dafür, dass die beiden gezwungen sind, sich mit all dem, was ihr Leben überschattet hat, auseinanderzusetzen. Hinzu gesellt sich Luca, Evans im Zuge besagten Familiendramas vernachlässigter achtjähriger Sohn, überdies taubstumm, da seine Mutter, ‚systemrelevant‘, rund um die Uhr eingespannt ist. Luca tut die Umgebung des Meeres zwar sichtlich wohl, was die konfliktive Beziehung zwischen Vater und Sohn jedoch nicht zu lindern vermag. Umso hilfreicher tritt hier Grace auf den Plan, die es versteht, mit dem sensiblen, naturverbundenen, zugleich einsamen Kind umzugehen – eines der berührendsten Momente in diesem Roman. Wie Maguire es überhaupt versteht, den Leser mit ihren vom Schicksal gebeutelten Figuren in den Bann zu ziehen, Empathie zu wecken.

 

*Interview mit Nora Tomaschoff, https://www.dumont-buchverlag.de/beitrag/interview-mit-der-autorin-roisin-maguire-  -54                                                                            

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem DuMont Buchverlag                     Archiv

 

Buchtipp des Monats April/Mai/Juni 2024

 

© erf

Bilder des Schreckens in Schönheit gefasst

 

... ich habe es mit Gott und mit dem Teufel versucht, aber die Angst lachte. Das alles ging sie überhaupt nichts an. Sie stand auf irgendeinem ganz anderen Blatt, war nicht zu greifen mit dem Instrumentarium, das mir zur Verfügung stand. Sie war unverletzbar, resistent wie eine Hydra, der zwei Köpfe nachwuchsen, wenn man ihr einen abschlug.

Natascha Wodin in „Les Sables-d’Olonne“

 

Natascha Wodin: Der Fluss und das Meer. Erzählungen. Rowohlt Verlag. Hamburg 2024.

 

„Schönheit wird die Welt retten“ – dies als Präambel vorangestellte Dostojewski-Wort verweist auf die in den fünf hier präsentierten Erzählungen raffiniert arrangierte Liaison zwischen Schrecken und Schönheit. Ersteres manifestiert sich dabei eher inhaltlich, Letzteres wiederum erweist sich in einer dem diametral entgegengesetzten Ästhetik im sprachlichen Duktus.

 

Die 1945 in Fürth geborene Natascha Wodin war das Kind sowjetischer Zwangsarbeiter, die es aus Furcht vor der stalinistischen Repression nach Kriegsende nach Deutschland verschlagen hatte. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich das Drama ihres Lebens, das letztlich nach eigenen Aussagen auch den Rohstoff ihrer Bücher abgibt.

Was alle fünf Erzählungen auf verstörende Weise verbindet, ist die Spur von Krieg, totalitärem Terror und Vertreibung im Zuge des 20. Jahrhunderts, die sich in gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen fortsetzt, um sich schließlich unheilvoll im Einzelschicksal der traumatisierten Protagonisten zu spiegeln.

 

So verarbeitet sie in der Titel gebenden ersten Erzählung „Der Fluss und das Meer“ nach ihrem Erfolg mit dem preisgekrönten Werk „Das Mädchen aus Mariupol“ (2017) noch einmal den Selbstmord ihrer Mutter, die in Deutschland nie Fuß gefasst hatte. „Nachbarinnen“ ist die durchweg tragisch intonierte Geschichte einer so schicksalhaften wie verhängnisvollen Spiegelung. In dem Maß, wie es der Ich-Erzählerin gelingt, aus unerträglich anmutender sozialer Enge auszubrechen und nach außen hin aufzusteigen, um sich in so genannten geordneten Verhältnissen wiederzufinden, erlebt ihre Nachbarin einen unaufhaltsamen Niedergang erschütternden Ausmaßes, der schließlich in deren Tod mündet, während die Ich-Erzählerin sich wähnt, daran mit Schuld zu tragen. „Notturno“ erhellt die Begegnung der Ich-Erzählerin mit dem schuldlos gestrauchelten, in einer Irrenanstalt internierten Heiner Fuchs, eines feinsinnigen Bruders im Geiste, mit dem sie das Schicksal teilt, in der von der Naziideologie durchdrungenen Kleinstadt F. aufgewachsen zu sein, wo sie sich allerdings nie begegnet sind und zwischen denen sich eine zarte Liebesgeschichte entspinnt. In „Das 

Singen der Fische“ wiederum erfüllt sich für die Ich-Erzählerin nach dem Erhalt eines unverhofft hohen Honorars der Traum einer Fernreise nach Asien. Die Unternehmung avanciert allerdings, konfrontiert mit der dort vorherrschenden, unvorstellbaren Armut, zum Alptraum. „Les Sables-d’Olonne“ hingegen ist die so vielschichtige wie tiefgründige Erzählung einer Angststörung, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint, worin zugleich facettenreich die höchst komplexe wie konfliktive Beziehung zwischen Psychoanalytiker und Klient reflektiert wird.

 

Jede der fünf Erzählungen scheint angetreten, Zeugnis zu geben, Zeugnis von den unzumutbaren existenziellen Gegebenheiten einer feindseligen Lebenswelt, die bei all den Versuchen, dem entgegenzuwirken, immer wieder zu Gewaltverhältnissen tendiert, sei es offen und brutal, wie es in Kriegen zutage tritt, sei es subtil, wie in der unbarmherzigen Mechanik des gesellschaftlichen Ganzen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Rowohlt Verlag in Hamburg

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Buchtipp des Monats März 2024

 

© Hartmut Fanger

Im Zauberland der Fantasie

Haruki Murakami:

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

DuMont Buchverlag, Köln 2024, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

 

Rechtzeitig zum 75. Geburtstag Haruki Murakamis hat sich der Bestseller-Autor aus Japan mit dem 672 Seiten umfassenden Roman „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ selbst ein Geschenk gemacht. Zugleich Ergebnis der pandemiebedingten Zeit der Isolation während des Lockdowns.

Dabei fußt das Ganze auf der gleichnamigen, 100 Seiten umfassenden  Kurzgeschichte von 1980, die 1985 in seinem Roman „Hardboiled  Wonderland“ schon einmal wiederverwendet wurde und womit er, wie dem Nachwort zu diesem jüngsten Werk zu entnehmen, wohl nie ganz zufrieden gewesen war. Nun wird es seinen Ansprüchen gerecht.

Wie bereits in vorherigen Romanen changiert bei Murakami auch hier die Wirklichkeit beständig mit dem Reich der Fantasie. Auf der Basis einer zarten Liebesgeschichte zwischen einem siebzehnjährigen namenlosen Ich-Erzähler und einem jungen Mädchen entsteht eine spannende, geheimnisvoll und mysteriös anmutende  Geschichte, die den Leser mit dem Verschwinden des Mädchens in der erträumten Stadt von Beginn an packt  und deren wunderbarer Erzählfluss ihn bis zum Schluss hin nicht mehr loslässt. Einen Großteil dazu mag hier auch die Übersetzung der mehrfach ausgezeichneten Ursula Gräfe beigetragen haben.  

Dementsprechend gern lässt sich der Leser in die Welt Murakamis entführen, in besagte fiktionale Traumwelt, in der u.a. von Einhörnern, einer Uhr ohne Zeiger, einer Bibliothek ohne Bücher und einer sprechenden Mauer die Rede ist. In eine Stadt, in der es zu allem hin weder einen Schatten noch so etwas wie Leid oder Trauer gibt. Von fehlenden Energieträgern, wie Gas oder Strom ganz zu schweigen. Von Musik gar nicht erst zu reden. Für den Ich-Erzähler wiederum insofern eine schmerzliche Erfahrung, als er das Mädchen in der Stadt zwar wiederfindet, diese ihn jedoch nicht mehr erkennt.

Am Ende entscheidet der Namenlose, dass er ohne seinen Schatten nicht weiterleben kann, und verlässt fluchtartig die strengbewachte Stadt, wobei zugleich jedoch etliche Gefahren auf ihn lauern. Zurück in der realen Welt, wird der inzwischen über Vierzigjährige in den Bergen Fukushimas Bibliotheksdirektor. Allein die Erinnerung an seine Liebe zu dem Mädchen bleibt erhalten. 

Nicht nur für Murakami-Fans, sondern für alle, die sich für Fantasy interessieren oder sich zeitweise aus der rauen Realität ins Reich der Phantasie begeben wollen, eine inspirierende Lektüre, von Melodiösität und Bildgehalt der Sprache her auf höchstem Niveau. Von der ‚Magie des Erzähltons’ wiederum spricht Iris  Radisch und schreibt dieser „absolute Simplizität mit dem großen Anspruch einer Wiederverzauberung des Alltags“ zu.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                             Archiv

Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem DuMont Buchverlag in Köln

Buchtipp des Monats August 2023

© erf:

Die Wahrheit hinter den Bildern

Unsere Liebe war älter als wir selbst.

Kein Verbrechen, noch nicht einmal der Tod,

konnte ihr ein Ende setzen. Wir hießen Isis

und Osiris, Zeus und Hera ... Gudrun Hammer

 

 Gudrun Hammer, Paul oder: Besuche in der Bilderkammer. Novelle, Dreiviertelhaus Verlag, Berlin 2023

Im Zentrum dieser so komplexen, vielschichtigen wie dichten Novelle mit Schauplatz Hamburg steht die Ich-Erzählerin und Protagonistin Johanna sowie die große Liebe ihres Lebens. Als Schulkind einst bezichtigt, von überschießender Fantasie zu sein, deshalb im Deutsch-Aufsatz nicht selten kläglich scheiternd, konnte dies ihre Liebe zu den Wörtern nicht trüben, die sie schließlich auch zum Beruf gemacht hat und als freie Lektorin arbeitet. Dort befähigt sie eben diese Fantasiebegabung, gepaart mit Empathie, in die fiktiven Welten ihrer Kunden einzutauchen, falsche Töne, mangelnde Erzähllogik oder überflüssigen Ballast darin aufzuspüren. Selbst schreibt sie nicht. Und das hat Gründe. „Ich hatte nur eine Geschichte zu erzählen, meine, nein unsere Geschichte, und von dieser Geschichte kannte ich nur die eine Hälfte. Bisher.“ Leseprobe

Alle lieben Paul. Die Ich-Erzählerin, ihre Mutter und ihre Schwester. Paul, Johannas Halbbruder und zwölf Jahre älter als sie. Als Baby hatte er sie gewickelt. Ihr den Weg zur Liebe zu den Wörtern und der Welt der Literaturen eröffnet, indem er sie im Familienkreis als Schulkind, noch kaum des Lesens mächtig auffordert, eine Passage aus Moby Dick zu lesen.

 Es war ein voller Erfolg. In Blitzgeschwindigkeit reihte ich Silbe an Silbe, mein Fingerzeig wies mir den Weg von Zeile zu Zeile. Der Sinn, den das alles ergab, war mir egal. Ich versetzte mich selbst und meine stillen Zuhörer in einen Geschwindigkeitsrausch. Silben, die zu Wörtern wurden, Wörter, aus denen Sätze wurden, rasten von mir zu ihnen, vorgelesene Satzzeichen gaben ihnen Orientierung in einem atemlos vorgetragenen Text. ... Leseprobe

Die Liebe Johannas zu Paul schien festgeschrieben in ihrer beider Seelenplan. Allenfalls dazu angetan, die Liebenden dazu zu nötigen, sich auf eine Reise ins Innerste ihrer selbst zu begeben. Und wie Liebesgeschichten eigen von glücklicher Liebe wird selten erzählt , kommt es auch zwischen Johanna und Paul jäh zur Trennung, als Paul beschließt, zur See zu fahren. Gefolgt von der Nachricht seines Selbstmords im Japanischen Ozean.

Allein, Johanna weiß tief in ihrem Inneren, Paul lebt. Niemals würde er sich umbringen. Und 30 Jahre später, Johanna ist in ihren Fünfzigern, begegnet sie ihm wieder. Auf dem Friedhof anlässlich der Suche mit Freundin Verena nach dem Grab einer gemeinsamen Freundin, die sich das Leben genommen hatte. Da sieht sie ihn flüchtig, am Grab einer Frau stehen, Elena Mertens, geboren 1951, gestorben im Mai 2001. Dies genügt, ihn ausfindig zu machen. Er betreibt indessen ein Fotoatelier in Altona, gibt sich als Hans Schröder aus. Er kenne keinen Paul. Sämtliche Beweisstücke, die Johanna an ihn heranträgt, prallen an seiner Wirklichkeit ab.

Einmal führt er sie durch die Fotoausstellung in seinem Atelier, seitenlange Passage, geflutet von Erinnerungsbildern aus ihrer gemeinsamen Zeit. „So kam es, dass wir langsam von Bild zu Bild gingen. Zwölf Farbfotografien, sechs an jeder Wand, allesamt im Querformat und gleich groß.“ Leseprobe  Meist Stillleben. Und fast auf jedem Foto erkennt Johanna Details aus ihrem früheren gemeinsamen Leben. Andererseits wiederum wirkt eine der Fotografien wie vor langer Zeit gemalt, durchbrochen allenfalls von einem winzigen Detail, wie das unter einem dicken Buch verdeckte Handy, das diese Vorstellung konterkariert.

Das Ganze angelegt als Art Vexierspiel, in dem Erinnerungsbilder in rasantem Tempo sich kreuzen, überlagern, Gedankensplitter Fährten legen, die sich wieder verlaufen. Tote sich zu den Lebenden gesellen, Lebende wiederum ins Totenreich geladen scheinen, über ethisch-moralische Belange zu debattieren, ebenso wie die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit immer wieder verwischt. Wie überhaupt Wirklichkeit zunehmend als Konstrukt erscheint, wonach Wahrheit, Halbwahrheiten und Lügen in Anlehnung an Michel de Montaigne als ‚unbegrenztes Feld hunderttausender Spielarten‘ zu betrachten seien. Dabei verdichten und verschieben sich Bedeutungsebenen und Zeitlinien. Spiegelfiguren wie Johanna und Schriftstellerin und Selbstmörderin Katharina, aber auch die der fünfzehnjährigen Johanna und der jungen Frau im selben Alter im Dunstkreis von Paul alias Hans Schröder, die ihn offenkundig anhimmelt, verweben sich überdies in das engmaschige Beziehungsgeflecht. Der Leser wiederum kann sich dem von dieser Lektüre ausgehenden Sog schwerlich entziehen, legt das Büchlein, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand, bis es denn ausgelesen ist und ihn mit einem Rätsel zurücklässt. Wer war Paul?

„Die Wahrheit, das war seine Stimme, die eine, unverwechselbare Stimme ... Lüge, Wahrheit, was heißt das schon. Vielleicht glaubte er ja selbst, was er sagte, vermischte schon lange Wahres mit Erfundenem und konnte selbst irgendwann beides nicht mehr auseinanderhalten.“ Leseprobe

Das alles entscheidende Treffen von Johanna und Paul in der Traube kulminiert in einem fulminanten, zugleich unspektakulär daherkommenden Schluss der Novelle, so überraschend wie offen. Die Klaviatur der Kunst des Schreibens bespielt Hammer so virtuos wie souverän.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Dreiviertelhaus Verlag!

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Siehe auch Poet's Gallery Juni 2023

Buchtipp des Monats April - Mai 2023

© erf: 

Via Crucis & Weltenfülle

Innenansichten

 

Gestern war ich noch mitten im Leben, heute bin ich draußen und sehr real mit dem konfrontiert,

was wir alle wissen, die meisten irgendwie verdrängen,

ich aber nicht mehr usblenden kann:

dass wir alle sterben müssen. Arno Luik

 

Arno Luik, Rauhnächte,

Westend Verlag, Frankfurt am Main 2023

 

Mit Innenansichten in Form von Tagebuchnotizen in zwölf Kapiteln, entsprechend den zwölf Rauhnächten, eingerahmt in eine Art Pro- und Epilog unter dem Titel „Merkwürdige Zeiten“, wartet der vielfach ausgezeichnete Journalist Arno Luik hier anlässlich seiner Krebserkrankung auf. Doch entgegen den Rauhnächten zwischen 25. Dezember und 6. Januar, die spirituell konnotiert sind und denen eine Begegnung der unsichtbaren Anderwelt mit ihren Engeln und Dämonen mit unserer irdischen zugeschrieben wird, gehen Luiks Rauhnächte vom 19. September 2022 bis zum 1. Januar 2023. Und auch wenn Luik nicht viel auf Spiritualität und Esoterik gibt, Engel und Dämonen, bildlich gesprochen, begegnen ihm zuhauf. Zugegeben vornehmlich Letztere. So die Dämonen der Angst, die Dämonen der Unruhe und der schlaflosen Nächte, Dämonen der Einsamkeit. Nicht zuletzt aber sind es zugleich die Dämonen im Außen. Die Schieflage einer Welt im Wandel, die zunehmend aus der Balance von einer Krise mit ihren Schreckensnachrichten in die nächste zu driften scheint. Einer Welt im Kriegszustand, der uns jetzt in den Medien durchweg, alternativlos, als Normalzustand suggeriert wird. Als hätte es nie eine stets auf Profit bedachte Rüstungsindustrie gegeben und es nicht immer schon so gewesen ist, dass Waffen, erst einmal ‚an den Mann gebracht‘, nicht auch zum Einsatz gekommen wären.

 

Luik, nicht nur Koryphäe seines Fachs – wem sind seine Verdienste im Zuge der Aufdeckung der Skandale um Stuttgart 21 oder unhaltbarer Zustände bei der Deutschen Bahn nicht entgangen –, sondern auch entschiedener Pazifist, wacher Zeitgenosse und Chronist, dabei durch und durch menschlich. Seine Krebs-Diagnose, wie hier nahegebracht, liest sich wie eine umfassende Revolte. Eine Revolte nicht nur gegen den eigenen Körper, sondern auch gegen die Politik einer augenscheinlich aus den Fugen geratenden Welt. So ist es immer auch das politische Geschehen, das ihn umtreibt, so dass die Analogie des Kriegszustands, sei es im Außen, sei es in seinem Inneren, kaum zu überlesen ist. Und als Art Star-Journalist an vorderster Front immer schon eng mit dem Weltengeschehen verwoben, was in diesen Aufzeichnungen auch facettenreich erinnert wird und zur Sprache kommt, bersten seine Aufzeichnungen geradezu – und darin liegt eine bemerkenswerte Ambivalenz – vor Lebendigkeit und Weltenfülle. So nehmen wir teil an seinen Lektüren, etwa der packenden Autobiografie Werner Herzogs von martialischer Energie, Jeder für sich und Gott gegen alle. Wobei die Grenze zwischen dem Politischen und dem persönlichen Erleben aufgehoben scheint: Fassungslosigkeit, Wut, Empörung, Ohnmacht, Angst – kurz die

 

Zumutungen des Lebens kommen hier drastisch zur Sprache, kommen zur Sprache in Form eines Aufschreis. Aber diesem Schrei, an Edvard Munchs die menschliche Angst verkörperndes Gemälde gleichen Titels gemahnend, wohnt eine ungeheure Vitalität inne, Lebenslust und Fülle ex negativo sozusagen.

Denn wo Luik Bilanz zieht über sein Leben, nicht zuletzt als Enthüllungs-Journalist, wartet er mit jeder Menge erhellender Hintergrundinformationen auf, die am Durchschnittsbürger mehr oder weniger vorbeirauschen und die einem die letzten Illusionen rauben können. So etwa im Hinblick auf seine Zeit als Chefredakteur bei der TAZ in den 1990er Jahren, die sich von den an die Macht drängenden Grünen unter Joschka Fischer zu deren Sprachrohr küren ließ, damit einhergehend, das Ja zur Bundeswehr, bis dato Tabu. Gefolgt vom Ja zur Nato und Bereitschaft zum sich abzeichnenden Angriffskrieg gegen Serbien. Laut Luik der Beginn einer Umerziehung vom ‚Nie wieder Krieg, ausgehend von deutschem Boden‘ zur zunehmenden Remilitarisierung und Gewöhnung daran. Schon damals ging es also darum, „den grün-alternativen Pazifismus, dieses lästige Gedankengut, auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.“ Leseprobe Indessen kann es einem schon mal die Sprache verschlagen, wenn seitens der Medien nahezu unisono jeder Einwand gegen die Lieferung schwerer Geschütze in die Ukraine als Affront gegen die Menschlichkeit gegeißelt wird.

 

Luik, ein Familienmensch, seiner schwäbischen Heimat verbunden, bodenständig, kommt rüber als einer, der den Dingen auf den Grund geht. Und das nicht nur, was das gesellschafts-politische Geschehen anbelangt. So hat er mit großer Empathie den an Parkinson leidenden ehemaligen Stuttgarter Bürgermeister Manfred Rommel oder kurz vor seinem Krebstod den Pädagogen, Familientherapeut, Journalist und Medienmanager Wolfgang Bergmann interviewt. Ganz zu schweigen von der Begleitung seiner eigenen Schwester, die qualvoll an ALS verstorben ist. Alles Erfahrungen, die ihn schon vorher gelehrt haben mochten, was ihm auch Erwin Chargaff, seines Zeichens Chemiker und Schriftsteller, in erster Linie aber einer der großen Humanisten des vorigen Jahrhunderts, den wenige Monate vor seinem Tod zu interviewen er gleichwohl die Ehre hatte, bestätigte: „Ohne Schmerz, Leid und Trauer ist man kein Mensch.“ Empfand Luik diese Erkenntnis damals „voll tiefer Weisheit“, bekennt er indessen, dass er ‚heute froh wäre, da wären weniger Schmerz, Leid, Trauer‘. Doch sind es eben jene schmerzvollen, im wahrsten Sinne „Herz zerreißenden“ Momente, die mit am meisten berühren:

„Barbara kommt vom Einkaufen, ich höre sie im Flur, sie reißt die Tür zum Wohnzimmer auf, noch im Mantel wirft sie sich auf mich, es schüttelt sie, sie zittert. Sie weint hemmungslos. Was ist los, Barbara? Wir umarmen uns wie Verzweifelte; wir umklammern uns wie Ertrinkende. »Ich habe grad so eine schöne Straßenmusik gehört. Ich habe mitgesungen. Ein paar Sekunden lang war alles weg, unsere Verzweiflung vergessen.«“ Leseprobe

Oder die Verbundenheit mit dem zutiefst menschlichen, vielseitig begabten schwäbischen Koch, Autor und Musiker Vincent Klink, der seine Frau, die Liebe seines Lebens, nicht lange her, durch Krebs verloren hatte, wie sie in dessen Zeilen zum Jahreswechsel zum Ausdruck kommt: „Liebe Barbara, lieber Arno, Euch und mir, allen wünsche ich, dass wir einigermaßen die Spur halten können.“ Leseprobe

 

Flüchtige Szenen wie diese: „Neben mir hing eine sehr junge Frau am Tropf. Dem Arzt erzählte sie von heftigen Problemen mit ihrer Chemo. Als ich gehen kann, sage ich zu ihr: »Ich wünsche Ihnen alles Gute!« Sie: »Ich Ihnen auch.« Und dann weint sie.“ Leseprobe

 

„Rauhnächte“, radikale Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und „Via Crucis“ par excellence, konfrontiert wiederum den Leser, und sei es als Leerstelle, mit dieser unstillbaren Sehnsucht nach wahrem, lebendigem Leben, Sein und Tun. Möge sich Luiks Traum, im schwäbischen Königsbronn „im April zu einem Festmahl unterm blühenden Kirschbaum“ einzuladen, [u]nd ... alle dann glücklich & unbeschwert sind“, Leseprobe indessen erfüllt haben. Wir wünschen es ihm von Herzen.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl

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Unser Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Westend Verlag in Frankfurt am Main 

Buchtipp des Monats März 2023

© Hartmut Fanger:

Gefangen im Kosmos von Kindheit & Jugend

 

Mircea Cărtărescu, Melancolia,

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022, Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner

 

Nach dem überaus erfolgreichen und zum Bestseller avancierten Roman „Solenoid“ sind von Mircea Cărtărescu nun auf 272 Seiten fünf Erzählungen erschienen, die zusammen genommen einen in sich geschlossenen Zyklus bilden. So fungiert die Erzählung „Der Tanz“ als Prolog, „Das Gefängnis“ wiederum als Epilog für die drei Erzählungen in dem mit „Melancolia“ betitelten Hauptteil. Und es ist die Einsamkeit, die sich darin hindurchzieht wie ein roter Faden.

 

Nicht zu unrecht wird der 1956 geborene Literaturdozent und Dichter gern mit Marcel Proust verglichen, der in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mit Hilfe des Duftes der Madeleine – des durch Proust zur Berühmtheit erlangten Gebäcks – Vergangenheit so gegenwärtig wie lebendig werden lässt und für den ‚eine Stunde nicht eine Stunde ist, sondern ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß‘.Und so wird auch in Mircea Cărtărescus Erzählungen in sinnlicher Wahrnehmung Vergangenes gegenwärtig und eine von Einsamkeit geprägte Kindheit und Jugend authentisch vor Augen geführt. So können wir zum Beispiel in „Die Stege“ die Verlassenheit des Kindes im Zuge der Abwesenheit der Mutter gut nachvollziehen, seine von Angst beherrschte Vorstellungswelt, dass sie vom Einkaufen nicht mehr zurückkehren könnte. Unter dem Blick des Jungen wird die Umgebung lebendig: die billigen, ,schlampig lackierten Möbel’, das mit ‚hässlichen Nippesfiguren’ bestückte Bücherregal, der ‚vergilbte Vorhang’, der ‚schwarz vor Staub“ erstarrte Fensterrahmen. So ergreifend wie bildhaft wiederum führt der Autor vor Augen, wenn ‚die Luft kalt und verschwiegen’ ist, ‚das Licht auf den Abend hinwelkt‘, oder ‚die Stille das Kind mit all ihren Kräften drückt ...’

Beunruhigend wiederum die so märchenhaft wie fantastische Erzählung „Die Füchse“, mit denen der achtjährige Marcel und seine dreijährige Schwester Isabel in ihrer Fantasie spielen, was ihnen kurzfristig hilft, sich in eine heile Parallelwelt zu flüchten. Letztere wird eines Abends jedoch durch die mit einem Mal aufkommende Angst vor eben diesen Füchsen, Krankheit und Tod durchbrochen. Nicht von ungefähr vergeht der kleinen Isabel das Lachen, Angst beherrscht sie nun. Schließlich wird sie tatsächlich von einem Fuchs entführt, wobei es um Leben und Tod geht. Marcel bleibt keine Wahl. Um seine Schwester zu retten, muss er sich opfern. Die dem Fuchs eigene Einsamkeit wird dabei von Marcel übernommen.

 

In der Erzählung „Die Häute“ wiederum bewegt sich die pubertäre Hauptfigur Marcel, für den nichts auf der Welt einen Sinn hat’, .zwischen zwei Altern’, sprich Kindheit und Erwachsensein. Die dabei ihn peinigende Einsamkeit bringt ihn an den Rand des Selbstmords, wenn die Kindheit als ‚noch strahlend behaftet, mit jenem stumpfen Glanz der Seide, dem man auf manchen alten Gemälden begegnet’ beschrieben wird. Der Gymnasiast liest seine Lieblingsdichter und hält sich fern von der äußeren Welt, der er sich zunehmend entfremdet. Im vitalen Gegensatz dazu das wachsende Interesse am anderen Geschlecht. Und so wie es für ihn selbstverständlich erscheint, dass ein Mann alle paar Jahre seine Haut wechselt, stellt sich dem Heranwachsenden die Frage, inwieweit dies auch für Frauen gilt.

 

Empfehlenswerte Lektüre, die den Leser in eine von Kindheit und Jugend geprägte Welt entführt und mit Sinn für Poesie und Sprachkraft zu fesseln vermag. Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

 

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Zsolnay Verlag Wien                                                                                                  Archiv

Buchtipp des Monats  Januar - Februar 2023

© Hartmut Fanger: Spannend und geheimnisvoll,klösterlich geistreich:

Thomas Hürlimann: „Der Rote Diamant“

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022

 

Mit „Der Rote Diamant“ bewegt sich der Schweizer Autor Thomas Hürlimann, ausgezeichnet unter anderen mit dem Joseph-Breitbach-Preis, auf den Spuren namhafter Kollege wie Hermann Hesse und dessen Roman „Unterm Rad“ oder Umberto Ecos „Im Namen der Rose“. Hier, im Kloster „Maria zum Schnee“, weit ab, hoch in den Schweizer Bergen, schneit es nahezu das ganze Jahr.

Doch wer glaubt, dass Hürlimann sich mit diesem Werk hinter seinen namhaften Vorgängern zu verstecken hätte, wird im Zuge dieser Lektüre allerdings eines Besseren belehrt. Mit seiner Fabulierkunst, dem ihm eigenen Tiefsinn, gepaart mit feinsinnigem Humor, versteht Hürlimann es nicht nur, seine Leser zu packen, sondern auch bestens zu unterhalten. Und so schwebt über all den regiden, bis ins Detail vor Augen geführten Maßnahmen und Abläufen des Mönchslebens im Kloster das offene Geheimnis um einen sagenumwobenen Roten Diamanten. Ein immens wertvoller Edelstein, den in der Phantasie der Bewohner bereits Cleopatra besessen haben sollte. Später soll er der Krone der Habsburger entnommen und seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt worden sein. Jeder vor Ort spricht darüber, doch keiner weiß wirklich, inwieweit es ihn überhaupt gibt und wo er sich, wenn ja, befindet.

Arthur Goldau, Hürlimanns elfjähriger Held und Klosterschüler, begibt sich nun auf die Spur und begegnet in all den düstereren Kabinetten klösterlicher Enge so manch skurriler Figur. So etwa dem einstigen, noch im ersten Weltkrieg geborenen Schlachtergesellen, Bruder Frieder, der einst als SA-Anwärter unter den Nazis Karriere machen wollte, stolz darauf, die braune Uniform zu tragen. Oder dem jungen Viper, dessen Spitzname sich seiner zischelnder Aussprache von S- und Z-Lauten verdankt. Der wiederum ist schlau genug ist, sich nicht an allen klösterlichen Ritualen zu beteiligen. Und er kennt sich erstaunlich gut aus in den verschachtelten Räumen und Gängen ebenso wie er natürlich auch von besagtem Diamanten weiß. Doch das begehrte Objekt findet sich nicht so leicht. Arthur und Viper beschließen deshalb, sich gemeinsam auf die Suche zu begeben, heimlich, versteht sich. Wie die Insassen in dem Kloster überhaupt Heimlichkeiten nachgehen. Alles, was verboten ist, bietet Anlass und reizt. Und so wundert es auch nicht, dass Arthur Goldau von einem Mädchen in die Liebe eingeführt wird, die Mönche unter der Bettdecke „Jerry Cotton“ Romane lesen, aus selbstgebauten Radioempfängern eines Tages Bob Dylans „The Times They’re Changing“ dröhnt und Arthur für den spektakulären Stones Song „I Can Get No Satisfaction“ schwärmt. Leicht zu erkennen, befinden wir uns als Leser in den sechziger Jahren, die alte Zeit ist am Untergehen, und auf vielen Ebenen beginnt etwas Neues. Ein Zeitenumbruch, der es in sich hat, was wir ebenso der Lektüre des Romans zuschreiben wollen!

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

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Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem S. Fischer Verlag 

Buchtipp des Monats Oktober - November 2022

© Hartmut Fanger

So  märchenhaft wie brisant: Der neue Öko-Roman

 

Ulla Hahn: Tage in Vitopia, Penguin Verlag, München 2022

 

Angesichts all der Bedrängnisse, die derzeit unseren Alltag beschweren, kommt das neueste Werk von Ulla Hahn, nicht zuletzt im Hinblick auf die Klimakrise, gerade zur rechten Zeit. Der 249 Seiten umfassende Roman entwirft eine Zukunftsperspektive und macht Mut! Dabei unterscheidet er sich wesentlich von den früheren, autobiographischen Romanen der Autorin. Man erinnere sich nur an die von Erfolg gekrönten Spiel der Zeit,  Das verborgene Wort oder Wir werden erwartet. Tage in Vitopia hingegen – erzählt aus der Perspektive der Eichhörnchen Wendelin Kretschnuss und Muzzli, geborene Coco von Hazelpusch – wäre eher dem Genre „Öko-Märchen“, in weiterem Sinne dem Begriff „Nature Writing“ zuzuordnen.

Ulla Hahn fesselt vom ersten Satz an, entfacht die Neugier des Lesers. Dabei geht es um nichts weniger, als die Welt zu retten. Denn die Eichhörnchen haben erkannt, was so manchem Erdenbürger noch nicht eingeleuchtet hat: Der Mensch selbst ist es, der gerade dabei ist, den Planeten Erde um seine Existenz zu bringen, insofern befinden sich sämtliche Lebewesen in der derselben bedrohlichen Lage.

Die Schilderung der Naturzerstörung im Hambacher Forst auf einem Kongress im fiktiven Land Vitopia, an dem geistreiche Lebewesen, sowohl aus vergangenen wie gegenwärtigen Zeiten, teilnehmen, bringt dies hier sehr genau auf den Punkt. So erläutern es etwa, jeweils aus ihrer Sicht, der Evolutionstheoretiker Charles Darwin aus dem 19. Jahrhundert oder auch der renommierte Wissenschaftler und in diesem Jahr verstorbene Naturschützer James Lovelock sowie Vertreter etlicher Tierarten. Gemeinsam wollen sie für ein friedliches und gerechtes Miteinander  sorgen. Nicht zuletzt übrigens in Kooperation mit der ‚neuen Weltbewegung’ „Fridays for Future“.

Und wie in den vorhergehenden Romanen Hahns erfüllt auch hier das Gedicht seine spezifische Funktion. Zum einen finden sich dort zahlreiche Verse, zum anderen wird dem Eichhörnchen das Schreiben von Gedichten nahegebracht, was gewiss nicht nur manchem Leser, der selber gerne Gedichte schreibt, Vergnügen bereitet. Wie es überhaupt immer wieder um das Schreiben geht. Nicht umsonst heißt ein Kapitel zum Beispiel „Charles Darwin liebt Gedichte und seinen Großvater“, ein anderes, in Anlehnung an Goethes Autobiographie, „Dichtung und Wahrheit“. 

Von der Lyrik nicht weit entfernt die Musik, die ebenfalls ihren Stellenwert in dem Roman einnimmt.  Tage in Vitopia, voller melodischer Anklänge, sind angereichert mit Zitaten der schönsten Lieder unseres Kulturkreises – etwa Franz Schuberts „Forellen-Quintett“, Beethovens „Ode an die Freude“, Louis Armstrongs „What a wonderful World“ oder Bob Dylans, „The Times, they’re achanging“, der nach Ulla Hahn bzw.  Wendelin Kretschnuss ‚mit Friedrich Schiller den Stein ins Rollen bringt’. Dementsprechend auch Kapitelüberschriften wie „Auf dem Klingstein-Berg“ und „Abstieg vom Klingstein-Berg“.  Unterstützt von besagten Gedichten, Liedern und Hymnen, schwingt und klingt er in seinem eigenen Rhythmus. Nicht zuletzt verweist es auf den ganzheitlichen Impetus des Romans, wenn neben dem berühmten ‚Geh aus mein Herz und suche Freud“ von Paul Gerhardt, der ‚Hymnus an die Mutter Erde’ aus dem ‚Atharva Veda’ oder das fünfzeilige japanische ‚Tanka’ zitiert und erläutert wird.

 

Ein Buch, das trotz aller Bedrohungsszenarien positiv in die Zukunft weist. („Wir schaffen das!“) Und nicht von ungefähr wird im letzten Drittel mit den Worten „Freuet euch!“ dazu aufgefordert‚ ‚den Dichtern zu vertrauen’. Dazu das treffende Zitat aus der „Patmos“ Hymne Friedrich Hölderlins: „Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch“, Worte, die Trost spenden und in Anbetracht der bevorstehenden dunklen Tage Licht hineinbringen mögen.

Denken wir ruhig schon jetzt an Weihnachten. Tage in Vitopia ist jedenfalls ein Buch, dass auf jeden Gabentisch gehört!

Aber lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar  gilt dem Penguin Verlag!    

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Buchtipp des Monats Juni 2022

© Hartmut Fanger

Kinderverschickung auf Italienisch

Viola Ardone: „Ein Zug voller Hoffnung“ in der Übersetzung aus dem Italienischen von Esther Hansen, Bertelsmann Verlag, München 2022

Die 1974 in Neapel geborene Autorin Viola Ardone hat mit ihrem Roman „Il treno di bambini“ in Italien bereits vor zwei Jahren für eine kleine Sensation gesorgt und es mit über 200.000 verkauften Exemplaren bis ganz nach oben in die Bestsellerlisten geschafft. Inzwischen ist er in 30 Ländern erschienen. Dank dem Bertelsmann Verlag ist das von Esther Hansen exzellent übersetzte Werk unter dem Titel „Ein Zug voller Hoffnung“ nun auch deutschen Lesern zugängig.

Auf so anrührende wie teils humorvolle Weise erzählt die Autorin auf 284 Buchseiten von einer Initiative der politisch Linken in Italien, die es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht hatte, Kinder für ein knappes Jahr aus dem Elend der verarmten südlichen Regionen zu befreien und mit dem Zug in den Norden zu schaffen, um sie dort bei wohlhabenden Familien unterzubringen.

Anhand der Hauptfigur, dem siebenjährigen Amerigo Speranza, wird deutlich, wie wenig Chancen ein Kind in Italien im Jahr 1946 hatte, das in Armut aufwuchs, und was für Möglichkeiten sich eröffnen können, wenn gute Ernährung selbstverständlich und man materiell gut gestellt ist. Unumstößliche Tatsache, die bis heute ihr Gültigkeit nicht verloren hat. So blieben die Talente Amerigos, wie etwa ein Hang zu Zahlen und Mathematik, seinen Gönnern nicht verborgen. Wie er überhaupt auf vielen Ebenen gefördert und zum Beispiel auch an ein Musikinstrument wie die Geige herangeführt wurde. Faktoren, an die im Süden, wo es um das nackte Überleben ging, nicht zu denken war. Nach seiner Rückkehr unterschlägt die Mutter die an ihn gerichteten Briefe und die geliebte Geige ist eines Tages einfach verschwunden. In einem Akt kindlicher Selbstermächtigung haut er schließlich ab zu seinen Gönnern im Norden und macht fortan von dort aus seinen Weg.

Was wohl, stellt sich am Ende Amerigo die Frage, wäre aus ihm geworden, wenn er die Erfahrung im Norden nicht gemacht hätte. Vielleicht hätte er den Beruf des Schusters ergriffen. Denn für Schuhe hatte er sich von früh an interessiert, zumal er stets die seiner Vorgänger auftragen musste, die ihm folglich nicht passten, die drückten und schmerzten. Ein Schmerz, der ihm selbst noch nach über vierzig Jahren in Erinnerung ist, als er seinen Heimatort besucht.

Last but not least ein Buch, das nicht nur im Hinblick auf Konfliktkonstruktion und Figurenzeichnung, sondern auch aufgrund seiner sprachlichen Qualitäten ein pures Lesevergnügen ist. So wird zum Beispiel gekonnt mit Hilfe von Auslassungen ein Erzählfluss von enormer Dichte erzielt, dem man sich kaum entziehen kann. Behutsam wiederum die Einstreuung historischer, den Krieg betreffender Fakten. So geht es immer wieder um den Kampf gegen die nationalsozialistischen Deutschen, um Partisanen und Gefallene. Rundum ein lebenspralles Stück Literatur, das voll und ganz zu Herzen geht. 

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                           Archiv

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Bertelsmann Verlag

Buchtipp des Monats Mai 2022

© Hartmut Fanger

Eine Tochter und zwei Väter – Ein Deutsch-deutsches Desaster   

Jan Weiler: „Der Markisenmann“ Wilhelm Heyne Verlag, München 2021

Wer kennt  Jan Weiler nicht. Der spätestens seit „Maria, ihm schmeckt’s nicht“, der gleichnamigen Verfilmung sowie dem Bestseller „Das Pubertier“ bekannte Autor wartet auch im zweiten Corona-Jahr mit einem vielversprechenden Roman auf.  

Wie schon in seinen früheren Büchern, kommt in „Der Markisenmann“ der ihm eigene leise, nichtsdestotrotz markante Humor, gepaart mit menschlicher Wärme und einem Hauch von Sozialkritik, zum Tragen. Mit Blick auf das Jahr 2005 erzählt eine inzwischen erwachsene Tochter namens Kim von dem Verhältnis zu ihrem Vater. Aus der Ich-Perspektive erfahren wir so von einer materiell verwöhnten, hingegen seelisch vernachlässigten Fünfzehnjährigen, die deshalb schon früh gegen die prekären familiären Verhältnisse rebelliert, insbesondere gegen Mutter Susanne und Stiefvater Heiko Mikulla opponiert. Die konfliktive Eltern-Tochter-Beziehung kulminiert, als sie eines Tages am Swimmingpool mehr oder weniger versehentlich ihren Stiefbruder Geoffrey anzündet. Zur Strafe wird sie während der Sommerferien ins Exil nach Duisburg versetzt, wo ihr leiblicher Vater Ronald Papen, der sogenannte „Markisenmann“, lebt, den sie dreizehn Jahre lang nicht gesehen hat. Dieser entpuppt sich zunächst als das genaue Gegenteil ihres geschäftstüchtigen Stiefvaters, verfügt weder über dessen Selbstbewusstsein noch Skrupellosigkeit, wirkt vielmehr zerbrechlich und hat feinere Manieren – und doch ist da so manches, was die beiden Väter gemeinsam haben.

Mit Sinn für Situationskomik und jeder Menge Lokalkolorit schildert Jan Weiler ein Universum der besonderen Art. Von Gelsenkirchener Verhältnissen bis zum Schönheitsideal der ehemaligen DDR, woher die einstigen Freunde, Stiefvater Mikulla und leiblicher Vater Papen inklusive Markisen, herstammen, was sich am Ende als ein deutsch-deutsches Desaster entpuppt. Allein die einer Lagerhalle entsprechenden Behausung Papens im Industriegebiet hat es in sich. Ebenso der nahezu irrwitzige Versuch, im Ruhrgebiet diese ästhetisch alles andere als attraktiven Schutzdächer an den Mann zu bringen. Ein offenkundig erfolgloses und von Beginn an zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Bis – ja, bis seine fünfzehnjährige Tochter die Bühne betritt und seine geschäftlichen Aktivitäten mit ihren die Grenzen der Legalität überschreitenden Verkaufsstrategien aufmischt ... Von da an ist vieles anders.

Allein wie es Weiler gelingt, sich im Rahmen einer Rückblende gekonnt in eine ‚schwer erziehbare’ Fünfzehnjährige hineinzuversetzen, ist ein gelungener Kunstgriff. Hier stimmt alles. Von der Psychologie einer Heranwachsenden bis hin zu deren Vorlieben und Sprache. Und selbst ihre an den Tag gelegten neunmalklugen Weisheiten kommen in diesem Kontext authentisch rüber. Zugleich eine so anrührend wie tragische Familiengeschichte, die unter die Haut geht. Nicht zuletzt aber eine bemerkenswerte Vater-Tochter-Erzählung mit großer Empathie für das ambivalente Figurenensemble.

Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!                                            Archiv

Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Heyne Verlag

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