© Hartmut Fanger:
Von Verlust und kleinen Fluchten
Helen Frances Paris: Das Fundbüro der verlorenen Träume, Übersetzung aus dem Englischen von Sophie Zeitz-Ventur, dtv, München 2022
Dieses Roman-Debut von Helen Frances Paris – einstige Professorin für Theaterwissenschaften an der Stanford University in Kalifornien, britische Autorin und Leiterin des Londoner Theater Curious, überdies preisgekrönte Lyrikerin – ist ein richtiges Sommerbuch voller Leichtigkeit und Zauber – nicht ohne Tiefgang.
So überzeugt die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Dorothea, genannt Dot, durch ihre Empathie und Mitmenschlichkeit. Hintergrund des Romans bilden der
unwiederbringliche Verlust des geliebten Vaters, das Gefühl von Verrat und Schuld sowie das Nachlassen des Gedächtnisses der schwer an Demenz
erkrankten Mutter, von der verhassten Schwester einmal ganz abgesehen, weshalb sich die Protagonistin in den Kammern des Fundbüros, dem sie vorsteht, förmlich vergräbt. Von hier aus hat sie
genügend Spielraum, kann sie wirken, kann für Ordnung sorgen und so manchem Geheimnis nachgehen. Zugleich ist es für sie aber auch ein Prozess der Selbstfindung.
Letzteres bildet schließlich auch das tragende Element des 368 Seiten umfassenden Werks. Nicht von ungefähr verliert sich die Ich-Erzählerin in den Katakomben besagten Fundbüros, übernachtet dort heimlich und verstößt gegen all die ihr auferlegten Regeln, indem sie die verlorengegangenen Gegenstände für sich selbst beansprucht. So betrinkt sie sich mit einem im öffentlichen Verkehrsmittel vergessenen Absinth, ernährt sich aus den dort abgestellten Dosen mit Pflaumen und Obstsalat, veranstaltet für sich allein eine kleine Modenschau, indem sie die feinsäuberlich archivierten Kleidungsstücke probiert. Begleitet vom Sound der Bee Gees und deren ‚Stayin’ Alive’, entflieht sie so der als unerträglich empfundenen Realität. Alles scheint indessen in Auflösung begriffen, das Haus der Mutter soll zu allem hin verkauft werden.
Umso anrührender, wie sich Dorothea um die verlorenen Dinge kümmert – „Rucksäcke, Schals, Regenmäntel, Brillen, Bücher, das Hochzeitskleid, der Waschbeutel“ Leseprobe: „Alles verloren, verlassen, vergessen. Aber das ist nicht so schlimm, denn ich bin ja da, verteile Anhänger, kümmere mich um sie.“ Leseprobe Darüber hinaus hervorzuheben sind die detailgenauen Schilderungen der Gegenstände, wenn die Autorin zum Beispiel die hölzernen Griffe der archivierten Schirme beschreibt und das, was ihre Protagonistin damit in Verbindung bringt. So heißt es an einer Stelle, dass diese bunten Schirme Dorothea „an einen Schwarm tropischer Waldvögel mit exotischem Gefieder“ erinnern, „Violett, Smaragd, Saphir, Türkis“ Leseprobe, an „einen Rotnacken-Topas, einen rotschnäbligen Wimpelschwanz, einen saltoschlagenden Rubinkehlkolibri“ Leseprobe, was im wahrsten Sinne des Wortes Farbe hineinbringt. Wie in den Augen der Protagonistin überhaupt ‚all die im Neonschein leuchtenden vergessenen Dinge lebendig werden’:
„»Heute seid ihr nicht verloren und allein«, verkündet sie mit ausgebreiteten Armen. »Ich adoptiere jede fröstelnde Socke, jedes zurückgelassene Buch und jeden lieben Pullover. Ich nehme euch unter meine Fittiche.« Alles um mich herum pulsiert vor Lebendigkeit.“ Leseprobe
Ihr geheimes Leben im Fundbüro geht bis zu dem Moment gut, wo sie von ihrem Vorgesetzten sexuell belästigt und aufgrund ihrer Verweigerung gekündigt wird. Von nun an scheint sie auf verlorenen Posten. Doch eine Angelegenheit will sie noch regeln. Es geht um eine honigbraune Reisetasche, die sie mit dem detektivischen Feingespür eines Sherlock Holmes und dessen Dr. Watson ihrem Besitzer zurückbringen will. Doch bis es so weit ist, gilt es noch so manches Abenteuer zu bestehen.
Schwerlich kann man sich dem Zauber des Buches, dem dort zur Sprache gebrachten schillernden Ambiente und der Liebenswürdigkeit der Protagonistin von der ersten Seite an bis zum Schluss entziehen.
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem Deutschen Taschenbuch Verlag dtv
Sachbuchtipp Janua- Februar 2002
© Erna R. Fanger
Unerhörte Signale: Prophetische Strukturen in der Literatur
Jürgen Wertheimer: Sorry Cassandra! Warum wir unbelehrbar sind, konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2021
Jürgen Wertheimer, Professor für Internationale Literatur in Tübingen, legt hier so spannende wie alarmierende Ergebnisse des von ihm ins Leben gerufenen Forschungsprojekts vor: Cassandra: Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung.
Strukturiert ist das Ganze in 12 Kapitel, jeweils aufgeteilt in 4 Abschnitte unter dem Titel „Zwischenruf“. Erschreckend offenbart Wertheimer uns das „Cassandra-Syndrom“, jene fatale Liaison zwischen Wissen und hartnäckigem Nichtwissenwollen. Letzteres wiederum habe insofern System, als dadurch verhindert werde, in die Handlung zu gelangen, etwas zu tun, sprich ‚in die Hand zu nehmen‘. Zwar vermag Literatur weniger, konkrete künftige Ereignisse vorherzusagen als vielmehr seismographisch Strukturen aufzuspüren, die uns unheilvolle Konstellationen mit bedrohlichen Folgen für menschliche Gesellschaften offenbaren.
Dabei geht Wertheimer gleichwohl der Frage nach, wie wir es verstehen, die Wahrnehmung unserer Wirklichkeit so zu verstellen, dass es uns versagt bleibt, daraus Erkenntnisgewinn mit entsprechendem Hang zur Handlung zu ziehen. Obwohl es an Daten, Fakten, ja geradezu einer Flut an Informationen im Zeitalter der Digitalisierung wahrlich nicht fehlt – eher ist das Gegenteil der Fall. Und das, obwohl seit der Antike immer wieder Mahner:innen ihre Stimmen erhoben haben. Als Stimmen moderner Mahner:innen aus jüngster Zeit werden etwa Susan Sonntag, Juli Zeh, Michel Houellebecq, Amos Oz oder der israelische Schriftsteller David Grossmann betrachtet, alle hochgeschätzt, hochgeachtet.
Doch bleibt es letztlich bei unerhörten Signalen. Denn ihnen nachzugehen, bedeutet, sich aus der Komfortzone, sei es politisch, sei es privat, herauszubequemen und den Finger in die Wunde zu legen, wofür man bekanntermaßen selten Beifall erntet.
Nicht zu unterschätzen sind dabei Unabhängigkeit und Freiheit der Literatur, deren Funktion es ist – neben der zu unterhalten –, verkrustete Verhältnisse aufzubrechen und deren dunkle Stellen zu erhellen. Wobei es hingegen in Politik und Wirtschaft weniger um Wahrhaftigkeit und Erkenntnisgewinn als vielmehr um den Erhalt und Ausbau von Machtverhältnissen geht. Ungeachtet der Bedeutung für das Individuum „kann [Literatur] sozusagen in die Eingeweide einer Gesellschaft schauen“. Leseprobe.
Dementsprechend wohnt Literaturen ein immenses Potenzial inne, das uns in vielfältiger Spiegelung Gefahrenzonen für die menschliche Spezies, aber auch zugleich ihrer Mitgeschöpfe vor Augen führt, das jedoch, machen wir es uns nicht nutzbar, vertan bleibt.
Um so verlockender Mannheimers Appell, sich der strukturellen Prognosen anzunehmen und dagegen anzugehen, noch bevor die darin sich abzeichnenden Katastrophen sich in unserer Wirklichkeit realisiert haben. So etwa die lange schon vorauszusehende Flüchtlingskrise im Zuge vielfach ineinander verzahnter Machtfaktoren und Ausbeutungsverhältnisse. Einst infolge des Kolonialismus, indessen des global herrschenden Turbokapitalismus, um nur ein Beispiel zu nennen, was in seinem strukturell sich abzeichnenden unheilvollen Potenzial uns bekanntermaßen noch lange in Schach halten wird, ohne dass von politischer Seite effizient dagegengehalten würde.
Doch Wertheimer geht, entgegen den düsteren Erfahrungswerten bisheriger Warnungen in Literaturen, davon aus, dass wir uns dieses hoch zu schätzende Potenzial nutzbar machen, und insofern „Glückliche Cassandras“ auf dem Plan rufen könnten.
Am Ende lautet das so herausfordernde wie zugleich Hoffnung stiftende Fazit: „[N]iemand anderer als wir selbst sind die Akteure unseres >Schicksals<.“Leserobe
Doch lesen Sie selbst, lesen Sie wohl!
Unser herzlicher Dank für ein Rezensionsexemplar gilt dem konkursbuch Verlag Claudia Gehrke